Die Schule der Nacht
aber darüber hinaus kämpfte April auch noch mit einem entsetzlichen Gefühl der Ohnmacht ihrem Schicksal gegenüber. Sie hatte gegen ihren Willen nach London ziehen müssen, ihr Vater war ermordet worden, bei der Suche nach dem Täter schien sie keinen Schritt weiterzukommen, und jetzt war ihr auch noch eine andere Rolle aufgezwungen worden, eine Rolle, der sie sich einfach nicht gewachsen fühlte. Caros Begeisterung für die »Mission«, wie sie es beharrlich nannte, verstärkte ihr Gefühl der Einsamkeit nur noch, was nicht zuletzt daran lag, dass sie insgeheim immer noch den Eindruck hatte, ihre Freundin würde es als zweitrangig betrachten, den Mörder ihres Vaters zu finden. Außer Fiona hatte sie sonst niemanden mehr, mit dem sie über all das, was sie beschäftigte, sprechen konnte – falls sie ihrer besten Freundin überhaupt noch vertrauen konnte, und da war sie sich nicht mehr so sicher. Von Gabriel hatte sie nichts mehr gehört, seit sie ihn vor zwei Tagen aus dem Haus geworfen hatte. Aber damit hatte sie natürlich rechnen müssen. Im Übrigen hatte sie selbst genauso wenig versucht, mit ihm in Kontakt zu treten, was nicht einmal etwas mit ihrer Auseinandersetzung zu tun gehabt hatte. Schließlich war es nicht seine Schuld, dass sie das Mal trug, und er wäre wahrscheinlich der Einzige gewesen, der wirklich verstanden hätte, was sie gerade durchmachte. Aber sie hatte ja nicht einmal seine Telefonnummer. Doch selbst wenn sie die Möglichkeit gehabt hätte, ihn anzurufen, hätte sie es nicht getan. Vielleicht war sie überempfindlich, vielleicht steckte sie den Kopf in den Sand, um sich der bitteren Wahrheit nicht stellen zu müssen. Aber – verdammt noch mal – sie wollte keine Furie sein, was auch immer das konkret zu bedeuten hatte. Ihr war kurz der Gedanke gekommen, ihre Mutter oder ihren Großvater darauf anzusprechen und zu fragen, ob sie irgendetwas darüber wussten – möglicherweise hatte ihre Heimlichtuerei um ihre Vorfahren ja etwas mit dieser Furien-Geschichte zu tun. Aber sie war sich ziemlich sicher, dass sie von keinem der beiden eine ehrliche Antwort bekommen würde. Sie hatten ihr Geheimnis so lange für sich behalten, warum sollten sie jetzt damit herausrücken, »nur« weil sie aus Versehen jemanden umgebracht hatte? Außerdem ging es dabei vielleicht um etwas ganz anderes, und sie verspürte nicht die geringste Lust, in ein weiteres Wespennest zu stechen, wenn es nicht unbedingt sein musste. Es gab schon so genug, womit sie sich auseinandersetzen musste, obwohl sie sich am allerliebsten in ihrem Bett verkrochen und sich vor allem und jedem versteckt hätte.
April griff nach der Gabel und rammte sie in ihren Muffin. »Ich hasse Kuchen«, sagte sie.
Caro zog die Brauen hoch. Sie hatte April nach der Schule ins Americano eingeladen, um sie ein bisschen aufzumuntern.
»Also jetzt übertreibst du aber«, sagte sie und biss genießerisch in ihr Schokocroissant. »Kuchen ist eine der besten Erfindungen aller Zeiten.«
April musste gegen ihren Willen lächeln. Sie hatte großes Glück, eine so treue Freundin zu haben, und sogar die Sache mit Milo hatte ihr Gutes, weil sie weitestgehend in Ruhe gelassen wurde, was ihr tausendmal lieber war, als wenn über sie getuschelt worden wäre. Außerdem war sie dem angekündigten Gespräch mit Miss Holden aus dem Weg gegangen, indem sie behauptet hatte, Milos Tod habe sie zu sehr mitgenommen. Sie selbst war allerdings nicht die einzige Nutznießerin der Situation. Davina hatte die Gelegenheit beim Schopfe ergriffen, um in einem klassischen, ärmellosen schwarzen Chanel-Kleid und einer riesigen Sonnenbrille in der Schule aufzukreuzen, die sie in regelmäßigen Abständen anhob, um sich mit einem Spitzentaschentuch die Augen abzutupfen, und war dadurch mal wieder zur Trendsetterin geworden. Alle, nicht nur die Schlangen, folgten ihrem Beispiel und trugen die ganze Woche über Trauer. Man hätte denken können, an der Ravenwood herrsche strenge Uniformpflicht. Der einzige Farbtupfer, der aus dem Meer aus schwarzen Outfits herausragte, war – wenig überraschend – Caros dunkelroter Kapuzenpulli, den sie als eine Art »ironisches« Statement betrachtete, um ihr Image als Schulrebellin zu verfestigen.
»Ich dachte, wir sollten so tun, als würden wir uns rekrutieren lassen«, sagte April missmutig. »Wenn du weiter so fröhlich bunt rumläufst, wollen die Schlangen garantiert nichts mit dir zu tun haben.« Mittlerweile hatte sie ihren Muffin in
Weitere Kostenlose Bücher