Die Schule der Nackten
Viertelbreite, das war nun nicht zu vermeiden. Was soll ich sagen, der Mann rückte nach.
Gottsdonner!
Man kann sich gut vorstellen, daß ich kurz davor war, etwas höchst Unbedachtes zu sagen: Hauen Sie ab, Sie Mensch, Sie Kakerlake, bleiben Sie mir vom Leibe, oder ähnliches, um mir den gesamten Tag zu verderben. Während ich von schräg, vom Buch her einen Blick empfing. Spöttisch? Ja, er war wohl spöttisch. Das Buch übrigens hieß «Sternthaler» von Anselm Bonseis, soweit ich einsehen konnte.
Dann stand der Mann, der Mensch, auf, um ins Wasser zu steigen, und als er naß zurückkam, ordnete er sein Tuch, zog es zurecht, breitete es neu, diesmal noch näher an mich heran. Also gut, der Mann mochte seinen Grund haben, vielleicht war ihm seinerseits der Nachbar zur Rechten zuwider. Mir jedoch blieb nichts anderes übrig, als mich der schönen Dame weiterhin anzunähern, das tat mir nun auch leid, da war nichts zu mähen.
«Es ist ein Soziotop, das hier stattfindet», sagte ich zu ihr beiläufig, «der Mindestabstand, der einen intakten persönlichen Bereich garantiert, oder, wenn Sie wollen, ein intaktes Heim.»
Erntete dafür einen spöttischen Blick. Mitte Vierzig? Ja, in den Vierzigern mochte sie wohl sein. Schön geschwungene Augenbrauen und ganz kleine Ohren. Und sie las ein Buch, das ich zwar nicht kannte, das aber in ihren Händen Empfindsamkeit verriet - oder sagen wir, die Tatsache, daß heutzutage überhaupt jemand ein Buch zur Hand nimmt, reichte dazu ja schon aus.
«Und dieser hier», ich maß den Zwischenraum zwischen unseren Tüchern mit zwei Handspannen ab, «ist eindeutig unterschritten. Darf ich mich übrigens vorstellen…»
Sie sah mich spöttisch an.
*
Aber am Montag hatte sie mir einen Platz freigehalten. Ich hätte, als ich um halb zehn eintraf, vielleicht noch anderweitig Platz gefunden, aber da zog sie, als ich vorbeiging, das zweite Tuch neben sich beiseite, um mich einzuladen. Mit einer entsprechenden spöttischen–nein, nicht so sehr spöttischen Geste. Ich meine, es kostete ja nichts. Aber am Dienstag und auch am Mittwoch, und dann noch am Donnerstag und Freitag zog sie immer noch das Tuch weg. Jeden Morgen nur für mich.
Ich hatte einen festen Platz.
Im Grunde bin ich ein höchst bürgerlicher Mensch, mache mir da gar nichts vor. Ich bin überhaupt nicht frivol, hatte hier im Freibad keineswegs alles abgelegt, weder meine Bindungen, meine Eigenschaften noch Beruf oder Namen - hatte mich bei dieser Gelegenheit der Dame in aller Form vorgestellt -, allenfalls Schuh und Strümpfe, das Hemd von Armani und die Hose von Bonard, die mag ich ja abgelegt haben. Bin trotzdem noch ein angezogener Mensch.
Als ich zwölf war und mit Freund Charlie die Welt erkundete, hatte er mich einmal in die Ungeheuerlichkeit von Nacktklubs eingeweiht. Irgendein verbotenes Buch aus dem Bücherschrank seines Vaters, «Mit der Kraft der Affendrüsen», oder so etwas, den Titel habe ich vergessen. Es schilderte ein elegantes Haus, mit Büffet, Empfangshalle und Wintergarten, wo sich eine gehobene, vor allem vorurteilsfreie Gesellschaftsklasse traf. Herren und Damen mit dem Sektglas in der Hand und sonst gar nichts. Wo der junge strebsame Fabrikantensohn erstmals der schönen Frau Bankdirektor vorgestellt wird und dabei eine… eine was?
Ja, es gebe eben nur zwei Möglichkeiten, führte mein Freund Charlie aus, entweder er bekäme einen Ständer, dann wäre das ziemlich peinlich, denn wie stünde der junge Mann dann da! Mit dem Glas Sekt in der Hand.
Oder aber er bekäme keinen.
Dann sei das ziemlich unhöflich gegen die Frau Bankdirektor, wenn nicht sogar beleidigend, dokumentiere der junge Mann doch unmiß verständlich, daß er sie reizlos findet. Und wie stünde er dann da!
Wollte Charlie wissen. Ich meine, er wollte es ernsthaft wissen, dieses Thema lag ihm am Herzen, und ich konnte, nur staunen. Hätte mir damals jemand weismachen wollen, daß mir einst eine splitternackte Dame jeden Morgen einen Badeplatz freihalten würde, und zwar gesellschaftlich korrekt und ganz nebenher - ich hätte gesagt: Da hat jemand einmal mehr gelogen (Charlie).
*
Ich bin in geordnete Verhältnisse hineingeboren und entsprechend beerbt worden, ich habe nichts auszuhalten. Mein Geschlechtsleben ist völlig normal, wenn auch nicht gerade prunkvoll, aber das war ja auch nicht zu erwarten. Mein eigentlicher und sehnlicher Wunsch, Architekt zu werden, wurde mir von den Eltern frühzeitig ausgeredet, weil zu
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