Die Schule der Nackten
Leben. Unaufhaltsam. Ich sehe sie noch, wie sie zwischen den Sonnenbadern einherging, hier und da ausweichend, um einen Busch herum und noch einen Busch. Und verschwand.
Ich habe den ganzen nächsten Tag auf sie gewartet, den nächsten auch, sie kam nicht wieder. Mittwoch, Donnerstag, Freitag habe ich gewartet und die ganze darauffolgende Woche.
Was ist es gewesen, ich wußte es nicht. Im Grunde waren es nur ein paar Proportionen, die mich aus dem Häuschen gebracht hatten. Die Diskrepanz zwischen stengeldünn und weitausladend, das Verhältnis von Umfangen, von Zentimetern also. Was sollte daran tödlich sein? Es war aber tödlich.
Nächtelang lag ich wach und sah das Bild der Göttin groß bis zur Decke aufragend, so große Mädchen hatte es früher nicht gegeben - meine Frauen waren anders gewesen. Das Mondlicht wanderte über den Vorhang, sehr langsam, stetig, bisher hatte ich nie gesehen, daß der Schatten des Balkonvorsprungs, ein Stockwerk höher, einen fliegenden Drachen auf die moosgrüne Seide zeichnet. Einen Flugdrachen, der in fünf Stunden von der rechten oberen Ecke zur linken unteren fliegt. Am Tage wartete ich im Schwimmbad. Noch eine volle Woche. Dann wollte ich es mir nicht mehr zumuten und ließ mic h zum Wochenende nach Starnberg auf ein Seegrundstück einladen, wo ich dem Gastgeber mit meiner Verfassung wahrscheinlich schwer auf die Nerven fiel: Ich war der mittlere Herr vorn am Steg, der sich auf lächerliche Weise in den Seehorizont verlor, eine durch und durch traurige Begebenheit. Da half alle exquisite Gastfreundschaft nichts - und sie war, von den Sonnenschirmchen auf den Drinks bis hin zu den polierten Bootsplanken, wirklich exquisit -, mir konnte keiner helfen. Das Gästehandtuch stammte aus Japan.
Zum Abendessen gab es pochierte Steinbuttklößchen auf Maronen, vorweg eine Ingwersuppe und zum Abschluß Soufflé meringne. Es wurde ein charaktervoller Chamboussain gereicht, auf der trockenen Seite, oder sagen wir, sehr «erden», sehr schön, hinterher eine Menge Schnaps. Am Montag lag ich dann ernüchtert und vor allem verkatert wieder im Jakobi-Bad, ernüchtert, weil ich die Wahrheit erkannt hatte und wußte, wo ich mich befand. Nämlich im Jakobi-Bad in allerbester Gesellschaft mit mir selbst.
Es gab eine deprimierende Sonne, die mich nicht bräunen konnte, da ich schon braun war, die Bäume waren grün wie sonst (?), außerden würden sie es nicht mehr lange machen. Glockengeläut? Montags gab es kein Glockengeläut. Ach ja, da war eine Dame gestern auf dem Fest gewesen, eine Psychologin, erfahrene Frau und modisch interessiert, sogar sehr interessiert, die hatte mich noch mehr deprimiert. Ich glaube, mit mir war nichts mehr anzufangen, jetzt wollte ich draußen eine scharfe Currywurst essen, dazu mußte man sich wenigstens eine Badehose für das Gartenlokal anziehen, und das war mir in meiner Verfassung auch egal (meinetwegen auch ohne), zuvor wollte ich noch kurz schwimmen.
So war es.
Ich schwimme durch das lauwarme Wasser, denn obwohl es im Jakobi-Bad frisch zirkuliert, ist es trotzdem lauwarm gegen Mittag, mir auch vollkommen egal. Schwimme dahin, in meinem nicht so guten Schwimmstil, und als ich am Ende des Beckens einen Augenblick auftauche, befinde ich mich direkt vor den hellgoldenen Augen.
Es ist dort nicht so tief, daß man nicht stehen könnte, also stelle ich mich hin.
«Sie sind es!»
«Ja.»
Im Augenblick habe ich das Gefühl einer totalen Zeitverschiebung und bin mir auch heute noch nicht ganz im klaren, ob es nicht eine gewesen ist.
«Ich habe zwei Wochen auf Sie gewartet, aber Sie sind nicht gekommen.»
«Das konnte ich nic ht», strahlt sie, «ich war zwei Wochen bei meinen Eltern. In Siegen. Da konnte ich nicht gut kommen.»
Das stimmte, also geleite ich sie zum Rand des Beckens, wo man, auf die Steineinfassung gelehnt, im Wasser stehend ein Gespräch wie an der Bar führen kann:
«Ich habe mich entsetzlich in Sie verliebt», sage ich.
Sich unglücklicher auszudrücken, wäre kaum möglich gewesen.
– – –
«Und ich kann Ihnen das auch nur deshalb gestehen, weil es zu spät ist: Ich bin ein alter Mann.»
Sie lacht.
«Wie alt sind Sie denn?»
«Fünfzig», sage ich viel zu schnell und weiß im bleichen Moment, wie groß der Schaden ist, den ich angerichtet habe. Denn ohne weiteres kann ich für Ende Vierzig durchgehen, wenn ich es darauf anlege. Für vierzig?
«Können wir uns trotzdem duzen», sie lacht auf wundervolle Weise, ihr Name sei
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