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Die Schule der Nackten

Die Schule der Nackten

Titel: Die Schule der Nackten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernst Augustin
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wenn die Sonne herumkommt.»
    Augenblick mal.
    «Bis um acht, dann geht die Sonne wieder weg.»
    «Augenblick mal», sagte ich, «du stehst mitten in der Nacht auf, legst dich hier draußen hin und schläfst weiter?»
    Ich war skeptisch.
    «Wegen der Sonne?»
    Ich war eigentlich sehr skeptisch.
    «Sag mal», fragte ich vorsichtig, «liegst du da nackt?»
    Sie strahlte. «Alex», sagte sie, du bist altmodisch.»
    «Und was ist mit diesen Fenstern.»
    «Die sind weit weg.»
    Es waren, wie ich feststellte, höchstens dreißig Meter über den Hof bis zur Fensterfront, und es waren - ich überschlug die Zahl - bei zwölf Stockwerken und bei acht Fenstern pro Stockwerk fast einhundert, die auf diesen Balkon blickten. An dieser Stelle wurde ich aber doch skeptisch, und als ich die Liege ausprobierte und über die niedrige Balustrade peilte - sie bestand in der oberen Hälfte nur aus einem Gestänge -, da erlitt ich doch einen gelinden Schock: Meine Göttin jeden Morgen um fünf den Blicken von einhundert schmutzigen Männern preisgegeben? Die extra zu diesem Zweck früh aufstanden? Ich besitze leider genügend Phantasie, um sie mir vorzustellen, die Männer mit den Ferngläsern, möglicherweise mit einer Vergrößerung von 1:50, so daß sie über dreißig Meter auf einen Abstand von sechzig Zentimeter herankamen? Welch eine Vorstellung! Sie könnten jedes einzelne Haar zählen.
    Jeden Leberfleck.
    Ich mußte erst einmal tief durchatmen.
    Was hatte sie gesagt? Die gehen mich nichts an?
    Das ist deren Sache? -
    Inzwischen saß ich tief durchatmend am Tisch und betrachtete die kleinen Gegenstände, die hier aufgebaut waren: ein winziger Lastenträger aus Stroh, eine rosa Kugel, mit Docht versehen, vier kleine Lumpenpüppchen in einer Reihe zusammengesteckt, ein Big Ben aus Bronze, kleinfingerhoch, eine Emaillebüchse mit den Portraits von zwei irischen Zeppelinkapitänen auf dem Deckel, jedenfalls stand darauf: God bless Ireland. Und ein Halter für Räucherkerzen, von denen sie jetzt eine anzündete, dazu eine ganz leise unterschwellige Musik: Ladadididi ladadididi. Indisch vermutlich.
    Aber erst, als ich mich weiter umsah - die Wände waren blaß fleischfarben gestrichen, mitten im Raum stand ein großes flaches Bett, lachsrot bezogen mit einer Unmenge Kissen - erst da fiel es mir auf: Ihre Fenster hatten keine Vorhänge!
    Die gesamte durchgehende Fensterfront, vom Fußboden bis zur Decke und von einer Querwand zur anderen, war blank und bloß, keine Blenden, keine Jalousien, keinerlei Markisen oder Rolläden, kein gar nichts. Es waren noch nicht einmal Haken angebracht, wo man hätte etwas aufhängen können. Jeder, der wollte, konnte uns die Bissen in den Mund zählen, wie wir hier am Tisch saßen, im Begriff, die Broccoli vom Teller zu nehmen.
    Ich glaube, erst das war der Augenblick, in dem ich zusammengebrochen bin, und nicht nur bildlich, ganz real, jedenfalls lag ich über dem Tisch. Schluchzend. Das nicht gerade, aber wie ein Mann habe ich mich nicht benommen (ein alter Mann).

    *
    Broccoli, Reis, oder waren es ähnliche Körner, etwas Indianisches aus Peru, Möhren, Zucchini und ein viereckig geschnittener Gemüsestrunk, den ich nicht deuten konnte. Meditative Musik, das «Lied der Ströme», dazu klares Wasser, sehr schön.
    Glaubst du an Seelenwanderung? Ja, daran glauben wir sicherlich, jeder auf seine Weise. An die Seelenwanderung.
    Nur glaube ich nicht, daß die Seele wandert.
    – – –
    Ich glaube, daß sie stillsteht. Die Zeiten wandern, die Träume.
    – – –
    Sehr schön.
    Es war noch hell draußen, hier drinnen aber durch den überhängenden Balkon vom oberen Stockwerk bereits etwas dämmrig. Und es würde noch dämmriger werden. Unsere Knie berührten sich unter dem Tisch, es war schon fast eine Intimität, deshalb streckte ich die Hand aus und ließ sie dort ruhen. Diese Sommerhaut über dem Knie ist viel glatter als die im Winter, eine luxuriöse Politur ist das, eine Schlangenhaut. Und die Sicht, wie ich annahm, war durch die Tischplatte verdeckt, jemand, der drüben auf dem Balkon stand, sah nur die Teller, die Schüssel mit dem Deckel, die Gläser und die zwei verschiedenen Brotsorten auf der Tischplatte. Das Mädchen Juliane bewegungslos in völliger Hingabe, sozusagen erstarrt.
    Ich ließ die Hand ruhen.
    Völlig erstarrt.
    – – –
    «Alex», sagte sie, «das ist mir jetzt zu intim.»
    Im selben Augenblick ging das Licht an, und ein junger Mann betrat den Raum. «Hi», sagte er, «was

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