Die Schule der Nackten
gewöhnlic h zu dieser Jahreszeit die Einkehr, die Besinnung und die Innenräume, von denen die Stadt ein wahres Universum aufzuweisen hat. Aus grauem Niesei tritt man ein in Nibelungensagen, Dietrich von Bern reitet durch glühende Saalfluchten, in dunkelgoldenen Treppenhäusern steigt man höher und höher bis zum blauen Licht des Ganymed, und immer befindet sich noch ein weiteres Glasdach darüber. Da kann man trockenen Fußes König Ludwig folgen, vom Schwanensee mit inkrustierten Wänden bis ins ferne Rom, das sich dann unter dem Stachus befindet. Um von dort - immer noch trockenen Fußes -, eine Mathäser Bierstadt passierend, zwei Kilometer weit, was sage ich, fünf Kilometer durch die Welt der Bilder und der Bildung zu wandern, der Geistesbildung Münchens. Und die genieße ich dann.
Juliane hatte inzwischen mehrfach angerufen. Ich wollte aber nicht antworten und hatte sie auf das Band sprechen lassen. Konnte allerdings kein Bedauern über das Geschehene aus ihrer Stimme heraushören, nicht einmal einen bedauernden Unterton. Was ich hören konnte, war Depression: Der Sonnenfrau fehlte die Glücksdroge! Immerhin war sie eine Süchtige, eine, der der Entzug besonders heftig zusetzen mußte. Es ist ein bekanntes Phänomen, daß dem Nordmen schen der Niedergang der Sonne von jeher als Unglück erschienen ist, die Tage gelten «als verstümmelt, in Fesseln geschlagen und von Mondwölfen angenagt». Selbst Baldr, der fröhlichste unter den Göttern der Germanen, stimmt ein Trauerlied an. Bedeutet doch das Fernbleiben der Sonnenscheibe den sicheren Tod, so daß sich Grabesstimmung breitmacht, sobald auch nur der November herannaht.
Nicht meine Person betreffend.
Ich gehe in die Bibliotheken und hätte Baldr, dem Germanen, das gleiche nur empfehlen können. Dort herrscht ein anderes Licht, dort steht die Sonne - die Sonne aller Zeiten - kompakt in den Buchreihen, bereit, aufzugehen für jede Art der Erleuchtung. Für jeden, der will, wenn er nur weiß, wie er danach zu suchen hat.
Es gibt in München die Bibliothek der Bibliotheken, die Maximilianssammlung der Universität. Ein gewaltiger Bau, einbezogen in den Gesamtkomplex Klenze’scher Idealbauten in der Ludwigstraße. Keine Spätgotik, keine Spätrenaissance und schon gar kein Spätbarock, eher Vision eines arkadischen Zeitalters, das es nie gegeben, in München aber doch gegeben hat. Die große Treppenrampe beflügelt mich jedesmal, wenn ich zum Lesesaal aufsteige, um mich über Brunnenbauten, Pottwale, Feuertänze, Wanderungen im Ardennenwald oder Hilfszeitwörter im Sumerischen zu belesen. Und so geistig sich meine Bibliotheksstunden auch immer anlassen, bereiten sie mir doch ein körperlich spürbares Hochgefühl - manchmal fühle ich mich versucht, barfuß über die Sandsteinplatten zu gehen. Ganz im Geist des Erbauers.
Klenze hatte wohl einen Idealmenschen im Auge, als er die wohlberechneten Quader, Schwellen und Ecksteine legte. Einen, auf den sich die Proportionen beziehen, nicht umgekehrt, einen, dem Respekt gebührt. Selbst ein Mann wie Hitler hatte es nicht geschafft, dort großmächtig aufzumarschieren - weiter oben an der Feldherrnhalle ja, aber nicht zwischen den Klenzebauten. Will sagen, die Freude am Geist ist hier, zumindest in der unteren Ludwigstraße, noch ungetrübt.
So sieht man mich denn an diesem Vormittag die Treppenfluchten aufsteigen, mit Schwingenkraft zum Saal der großen Denker - sie stehen als Porträtbüsten in langen Reihen entlang der Wände. Dort sitze und arbeite ich. Ich werde einmal die Methode des «wissenschaftl. Lesens» erklären. Es ist nämlich keineswegs so, daß man hingeht und nach einem hilfreichen Gespräch mit einem Kurator einfach Band 4 herauszieht. So ist es nicht. Man sitzt dreieinhalb Millionen verschlossenen Büchern gegenüber, die noch nicht einmal ihre Titel ausreichend benennen - da sind höchstens kryptische CodeBezeichnungen zu sehen: 010 AV-16010 B, oder in der Handbuchabteilung: Hiermann, gesch.-soziol. Grundl. d. außereu-rop. Kult. XXXII, 5. Die kommen einem nicht entgegen, sondern man muß die Fährte aufnehmen, man muß sich, unter der ätherischen Büste Freuds sitzend - der hier übrigens große Ähnlichkeit mit dem auf dem gegenüberstehenden Sockel befindlichen Virchow hat -, anwehen lassen.
So ist das. Der Geist des Hauses weht, und man läßt sich von ihm tragen, bis man unter dem Schlagwort Sonne, Sol auf Soleier(*) stößt und von dort auf Chamisso, der an der Beck’schen
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