Die Schule der Nackten
der andere fühlt.»
Mächtig und auch gemächtig, so wie er über uns stand.
«Wir wollen empfinden und empfinden lassen, auf einer Skala von eins zu zehn.» Wir wollen was?
– – –
Im Augenblick glaubte ich, nicht richtig gehört zu haben.
«Das Gefühl numerieren», sagte er behutsam, «wir wollen Noten geben für das, was wir empfinden (und empfinden la ssen).»
Eins - nicht so gut.
Zwei - auch nicht gut, aber besser.
Drei - besser.
Vier - gut.
u.s.w.
Zehn - fulminant, außerordentlich aufregend, das höchste der Gefühle.
Auf der Landkarte des Körpers? Das allerdings war eine merkwürdige Wendung, die die Dinge nahmen.
«Was ist das?»
«Das ist eine Zehn», sagte die Traudl leise. Und das war natürlich Unsinn, ich hatte ihr nur ganz sachte über den Oberschenkel gestrichen, setzte deshalb etwas tief er an und strich übers Knie?
«Eine Zehn.»
«Eine Zehn», wunderte ich mich, «wie kann das eine Zehn sein!» Natürlich flüsterte ich, wollte nicht, daß die Nachbarn an unserem Gefühlsleben teilnahmen, nur fiel mir auf, daß meine Dame irgendwie glasig schaute, als ob sie ein Mittel genommen hätte, irgendwie weggetreten. Als ich ihr jetzt über die Vorderkuppe der Großen Zehe strich (Großer Onkel).
«Eine Zehn.»
«Oh, oh», rief ich aus, leise natürlich, «vielleicht sollten wir doch noch einmal genauer nachfühlen: Ist es eine, oder ist es keine.»
Es war eine Zehn.
«Und hier?»
Hier auch.
Wohin sollte das führen, es waren sozusagen lauter Zehner, ganz gleich, wo ich hinfaßte, ich meine, irgendwo mußte doch eine gottverdammte Steigerung zu verzeichnen sein. Wenn ich jetzt über den Fußrücken strich.
«Ja.»
Ich meine, vom Fußrücken aufwärts über die Fesseln, über die Waden…
«Ja.»
… über die Innenseite der Oberschenkel zum Venusbereich, mußte sich doch in Gottes Namen…
«Ja. Ja.»
Ihn sanft umkreisend.
«Ja. Ja. Ja.»
Jetzt gab die Dame einen Ton von sich. Leise erst, dann lauter, und es entsprach so gar nicht der blassen Frau Fetter, daß sie jetzt rotgesichtig wurde. Bei aller Blässe. Ganz laut. Großer Gott, was hatten wir da angerichtet, Orgasmus ist bei diesen kontemplativen Übungen gar nicht vorgesehen, genauer gesagt, widerspricht er ihnen: Er ist nicht das Ziel, allenfalls der Weg. Das habe ich natürlich nicht gesagt, vielmehr etwas Beruhigendes: «Ist ja gut. Es wird in Ordnung gehen. Wir werden auch das unbeschadet hinter uns bringen.» Oder noch ruhiger:
«Keine Angst.»
Zu diesem Zeitpunkt fing ich aber einen vernichtenden Blick des Ehemannes Fetter auf, der zwei Plätze weiter ein eher mechanisches, zumindest etwas angestrengtes Verhältnis mit der sonst kommunikativen Friede hatte. Und der Meister trat dann auch noch in Erscheinung, indem er verkündete, daß ab heutigem Abend für alle diejenigen, die ihn benutzen wollten, der «Liebestempel» geöffnet sei.
«Ab neun Uhr, im hinteren Saal.»
– – –
«Kommst du?» fragte die Traudl.
*
Den «Liebestempel» habe ich tatsächlich in Augenschein genommen. Es handelte sich um den sogenannten geheimen Raum, den einige Tage zuvor die Frauengruppen für ihre Sitzungen benutzt hatten und der nun offenbar umfunktioniert war: der Liebestempel ab neun.
Er war üppig mit Matratzen bestückt, ich zählte elf, und es waren an drei Stellen Kondome ausgelegt, wie ich sah, dazu Kerzenbeleuchtung auf kleinen Tischen, die Wände ochsenblutrot, Decke mit einem großen Mandaladruck bespannt, der, stark durchhängend, ein negatives Gewölbe ergab - insofern ein wenig drückend, ich weiß nicht, ob das beabsichtigt war. Obendrein von einer eintönig gleichbleibenden Musik durchzogen - das ist nicht abwertend gemeint, es war eben nur ein Ton -, durchzogen auch von ziemlich starkem indischem (chinesisch-indonesischem) Räuchergeruch. Außerdem war kein Mensch anwesend.
Außer mir um neun Uhr.
Und auch nur, um der armen Traudl mitzuteilen, daß ich nicht kommen würde. Die aber auch nicht kam - am Morgen würden wir dann alle erfahren, daß das Ehepaar noch in der Nacht abgereist war, wofür wir, besonders ich, eigentlich Verständnis hatten. Jedenfalls war der «Liebestempel» an diesem Tag nicht angenommen worden. Nicht am Donnerstag. Und nicht um neun. Ob später, kann ich nicht sagen.
18
Bis hierher, glaube ich, war ich in meiner Schilderung doch recht genau, habe jedenfalls auch heiklere Differenzierungen, soweit Sitte und Anstand es zuließen, nicht vermieden, mangelnde Präzision
Weitere Kostenlose Bücher