Die Schwalbe, die Katze, die Rose und der Tod - Svalan, katten, rosen, döden
standen: Joseph Conrad.
Ab und zu schrieb er etwas an die Tafel, und der Saal schrieb emsig mit, wie Van Veeteren verwundert feststellte. Ein paar Zuhörer hatten sogar ein kleines Aufnahmegerät auf ihren Tischen deponiert. Das hatte man vor vierzig Jahren noch nicht gehabt, und er begann zu ahnen, dass Professor deFraan als eine Koryphäe angesehen wurde.
Was ihn selbst betraf, so hatte er bald Probleme mit der Konzentration. Offenbar war es schlecht um den Sauerstoff im Saal bestellt, und der Einfluss der Schwerkraft auf die Augenlider war nicht zu leugnen. Er hatte Conrad und auch Trollope gelesen, hatte seine persönliche Auffassung zumindest Conrad gegenüber, und eigentlich war er nicht besonders erpicht darauf, sie verändert oder korrigiert zu bekommen.
Jedenfalls nicht von einem potenziellen Mörder.
Borrow kannte er nur dem Namen nach, und das kaum. Er spürte, dass er schon wieder gähnte, es knackte in den Kiefern, und es war schon sonderbar, wie beruhigend es irgendwie war, hier in diesem Saal zu sitzen.
DeFraans Stimme war kräftig und wohlklingend. Während er sich immer weiter in die Bürde des Weißen Mannes im Herzen der Finsternis vertiefte, spürte Van Veeteren, dass es für ihn immer schwieriger wurde, dem Redner dort vorn die Rolle zuzuschreiben, die der Grund dafür war, dass er überhaupt hier saß.
DeFraan trat nicht wie ein Würger auf. Verhielt sich nicht wie ein Mörder.
Trat nicht wie ein Würger auf?
Van Veeteren schüttelte den Kopf über diese amateurhafte Bemerkung.
Wir müssen uns klar darüber sein, dass auch Verbrecher sich meistens vollkommen normal verhalten –
das war eine der Regeln, die ihm der alte Borkmann vor vielen Jahren eingeschärft hatte.
Unter bestimmten Umständen kann es sogar unmöglich sein, eine Busladung von Psychopathen aus einer äußerst friedlichen Versammlung unbescholtener Bürger herauszupicken,
hatte er hinzugefügt und den Mund zu seinem charakteristischen Grinsen verzogen.
Beispielsweise unter einer Gruppe von Bestattungsunternehmern auf einem Sonntagsausflug!
Van Veeteren musste schmunzeln, als ihm klar wurde, dass er sich an diese Gardinenpredigt noch Wort für Wort erinnerte.
Verhielt sich nicht wie ein Mörder!
Borkmann hätte lauthals über so eine Formulierung gelacht. Am besten, man erwartete nicht zu viel. Wie immer. Van Veeteren beschloss, den Professor in der Dunkelheit seines Herzens zurückzulassen und sich stattdessen anzusehen, was Winnifred Lynch im Computer gefunden hatte.
Zum überwiegenden Teil handelte es sich natürlich um akademische Meriten. Examina. Posten. Veröffentlichte Schriften und Artikel. Symposien und Konferenzen, an denen deFraan teilgenommen hatte… wissenschaftliche Projekte, an denen er arbeitete.
Van Veeteren überflog all das. Notierte sich, dass er mit einer Arbeit mit dem Titel
Narrative Structures in Popular Fiction
promoviert hatte und dass er seit 1996 an der Maardamer Universität eine Professorenstelle innehatte. Vorher war er vier Jahre lang als Lektor an der bedeutend weniger ehrwürdigen Lehranstalt von Aarlach tätig gewesen, die auch seine Heimatuniversität war.
Die eher persönlichen Angaben nahmen ungefähr die Hälfte der zweiten Seite ein und erzählten unter anderem, dass er am 7. Juni 1958 in Lingen geboren war. Dass er verheiratet gewesen war, aber seit 1995 verwitwet, dass er keine Kinder hatte und dass er in der Kloisterstraat 24 wohnte.
Viel mehr war da nicht. Van Veeteren las alles noch einmal von Anfang bis zum Ende durch, um zu sehen, ob er nicht doch vielleicht irgendetwas übersehen hatte – ein noch so winziges Detail oder einen Hinweis –, das darauf hinweisen konnte, dass er wirklich derjenige war, den sie suchten. Der Würger. Der viel beschriebene und sie verspottende Wahnsinnige, der fünf Menschen mit bloßen Händen getötet hatte.
Der Mörder mit dem großen M.
Er hob seinen Blick und betrachtete den gut gekleideten Mann vor der Tafel. Er schrieb gerade etwas an, ein paar Buchtitel und ein paar Jahreszahlen. Sollten diese Hände wirklich… diese Hand (die ein Pflaster auf dem Handrücken trug, wie Van Veeteren automatisch registrierte), sollten diese Finger, die den blauen Filzstift hielten und diese Buchstaben formten, in einer anderen Situation und unter gewissen Umständen in der Lage sein, sich um den Hals einer Frau zu schließen und… ?
Es erschien absurd. Zwar hatte er im Laufe seiner Karriere schon diverse Wölfe im Schafspelz getroffen, aber das
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