Die schwarze Kathedrale
abend, und Mr. Stonex begründete die Terminverschiebung damit, daß die Feier zur Wiedereinweihung der Orgel abgesagt worden sei.«
»Das ist sehr seltsam«, murmelte ich vor mich hin, bevor ich mir dessen bewußt war.
»Wie bitte?« fragte Dr. Locard leise.
»Entschuldigen Sie«, flüsterte ich zurück. »Ich wollte das eigentlich nicht laut sagen.«
Austin mußte vollkommen verwirrt sein. Es paßte zu seinem Betragen während der letzten Tage und ließ sich vielleicht als Zerstreutheit eines hoffnungslos verliebten Mannes erklären. Aber ich konnte die Augen nicht länger vor der Erkenntnis verschließen, daß manche Aspekte seines Verhaltens angesichts dessen, was passiert war, sehr beunruhigend waren. So hatte er zum Beispiel, als wir um halb fünf zum neuen Dekanat unterwegs waren, plötzlich behauptet, der alte Herr sei noch nicht bereit, uns zu empfangen, obwohl wir genau zum vereinbarten Zeitpunkt angekommen waren. Und dann die Tatsache, daß er angab, nicht bemerkt zu haben, daß das Haus vor unserer Ankunft auf den Kopf gestellt worden war. Das war eindeutig mehr als nur Geistesabwesenheit.
»Dann ist da noch der seltsame Umstand«, fuhr der Sergeant fort, »daß die Hausbedienstete, Mrs. Bubbosh, erklärt, daß sie den Tee nicht vorbereitet und nichts von der Einladung gewußt habe. Das hat mich dazu bewogen nachzuforschen, wo Mr. Stonex die angebotenen Lebensmittel gekauft hat. Ich habe mich bei sämtlichen Bäckereien der Stadt erkundigt, und bei keiner hatte Mr. Stonex die Kuchen gekauft, die er seinen Gästen anbot.«
»Ich verstehe nicht, warum das so wichtig sein soll.«
»Es bestätigt meinen Verdacht, daß irgend etwas nicht stimmt, daß Mr. Stonex Vorkehrungen getroffen hat, um zu verheimlichen, was er tat.«
»Wollen Sie etwa behaupten, daß er die Kuchen selbst gebacken hat?« Aus der Zuhörerschaft tönte unterdrücktes Gelächter. »Das sind alles Spekulationen, Sergeant, ohne den geringsten Beweis.«
»Bei allem Respekt, Sir, aber das ist die Annahme, daß Perkins den alten Herrn getötet hat, auch.«
»Wenn es nicht Perkins war, haben Sie vielleicht einen Vorschlag, wer es sonst gewesen sein könnte?«
Die Zuhörer schienen allesamt den Atem anzuhalten. Das Gesicht des Sergeanten arbeitete, wobei er den Blick langsam über die Anwesenden gleiten ließ. »Nein, Sir, ich habe keinen«, sagte er endlich.
»Dann brauchen wir wohl auch keine Zeit mehr damit zu vergeuden, die Augen vor dem Offensichtlichen zu verschließen«, beendete der Untersuchungsbeamte die Befragung des Sergeanten.
Es ging mir durch den Kopf, ob Sergeant Adams wohl etwas von der Existenz eines Bruders wußte und ob er die gleichen Überlegungen angestellt hatte wie ich: Der Besucher, bei dem es sich um den mysteriösen Bruder handeln mußte, war sowohl der Grund für die Suche des Opfers nach seinem Testament als auch für das Verschwinden des Dokuments. Und das zerschmetterte Gesicht des Opfers ließ darauf schließen, daß von jemandem getötet worden war, mit dem er eng verbunden gewesen war. Und doch war so manches noch immer ein Rätsel. Warum hatte der alte Herr nach seinem Testament gesucht? Hatte er seinem Bruder zeigen wollen, daß er sein ganzes Vermögen der Stiftung hinterlassen wollte? War sein Bruder daraufhin in Wut geraten, hatte ihn erwürgt und ihm dann grundlos das Gesicht zerschmettert? Und dann das Testament an sich genommen? Und war für das alles zwischen halb sechs und sechs überhaupt genügend Zeit gewesen?
Oder vielleicht hatte Mr. Stonex ja gerade deshalb nach seinem Testament gesucht, weil er sich vor seinem Bruder fürchtete, der ja wußte, daß er sein Vermögen erben würde, wenn bei seinem Tod kein Testament gefunden würde, und er hatte es an einen sicheren Ort bringen wollen. Ob er es dann vielleicht anderswo versteckt hatte, bevor sein Mörder ins Haus kam?
Der nächste, der in den Zeugenstand gerufen wurde, war Mr. Appleton, ein großer, magerer, gebeugter Mann mit einem langen, angespannten Gesicht, der bestätigte, daß er Perkins um kurz nach halb sechs an der Tür zum Haus des Opfers gesehen habe.
»Warum sind Sie so sicher, daß es kurz vor halb sechs war?« fragte ihn der Coroner.
»Das ist ganz einfach: Ich kam von der Kathedrale, wo der Abendgottesdienst um fünf Uhr angefangen hatte. Unmittelbar vor Beginn des Gottesdienstes hatte mir der Chorleiter gesagt, daß ein bestimmter Chorknabe nicht erschienen sei. Es handelte sich um einen Jungen, der schon öfter die
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