Die schwarze Kathedrale
– und daß dann mehrfach mit einer Axt, die ebenfalls neben dem Toten gefunden wurde, auf sein Gesicht eingeschlagen wurde.«
»Wie viele Schläge waren es?«
»Ich schätze zwischen sieben und acht. Es waren wuchtige Schläge, durch die das Nasenbein, der Oberkiefer und die Zähne vollständig zerschmettert und beide Augen ausgeschlagen wurden.«
»Wurde der Mörder dabei mit Blut bespritzt?«
»Die Person, die Mr. Stonex das Gesicht zerschmettert hat«, sagte der Doktor bedachtsam, »wurde nicht mit Blut bespritzt, weil das Opfer bereits tot war. Deshalb blieb die heftige Blutung aus, die unvermeidlich gewesen wäre, wenn der Verstorbene noch am Leben gewesen wäre. Dieser Umstand, zusammen mit der Tatsache, daß keine Blutergüsse vorhanden waren, sind mein Beweis dafür, daß der Tod bereits eingetreten war.«
»Wenn die Schläge nicht geführt wurden, um das Opfer zu töten, welchen Sinn hatten sie dann?«
»Darüber kann ich nur spekulieren. Wenn mehr Gewalt angewendet wird als nötig, um das Opfer zu töten, ist das gewöhnlich ein Hinweis, daß der Mörder ein Verwandter, ein Liebhaber oder enger Freund war.«
Das war interessant. Mr. Stonex hatte keine engen Freunde gehabt, daß er eine Geliebte gehabt hatte, war höchst unwahrscheinlich, und so begann ich über den Bruder nachzudenken. Ich war der festen Überzeugung, daß das Motiv der Schlüssel zu diesem Mordfall sein mußte, und bisher hatte es nicht den Anschein, als habe Perkins ein ausreichendes Motiv gehabt, sofern er nicht äußerst töricht einem plötzlichen Impuls folgend gehandelt hatte. Aus dem, was der Arzt gerade gesagt hatte, und der Tatsache, daß, sofern kein Testament gefunden wurde, das Erbe an den nächsten Verwandten fiel, mußte man schließen, daß der Mörder in dieser Richtung zu suchen war.
»Um wieviel Uhr ist der Tod eingetreten?« wollte der Coroner wissen.
»Um sieben Uhr, als ich den Toten untersuchte, war Mr. Stonex seit mindestens zwei Stunden tot, wahrscheinlich sogar seit drei.«
Ich beugte mich auf meinem Sitz nach vorn. Ich war von der Professionalität des jungen Arztes – wenn auch nicht von seinen Manieren – sehr beeindruckt gewesen, aber das war ja nun ganz offensichtlich Unsinn. Der Coroner schien meine Meinung zu teilen. »Seit zwei oder sogar drei Stunden tot? Das ist absolut unmöglich.«
Dr. Carpenter antwortete ruhig: »Dennoch habe ich durch einfaches Abtasten festgestellt, daß der Tod etwa um vier Uhr eingetreten ist. Ich habe mich bei dieser Feststellung auf die Experimente gestützt, die vor einigen Jahren von zwei sehr angesehenen Ärzten am Guy’s Hospital durchgeführt wurden.«
»Das ist vollkommen absurd!« rief der Coroner aus. »Um halb sechs haben noch zwei Männer den Verstorbenen gesehen und mit ihm gesprochen.«
»Ich kann nur berichten, was ich beobachtet habe«, entgegnete der Doktor ruhig. »Meine Einschätzung wurde durch die Autopsie bestätigt, die ich spät in der Nacht noch durchgeführt habe. Die Totenstarre setzte gegen zehn Uhr ein, was darauf schließen läßt, daß der Tod um oder kurz vor vier Uhr eingetreten ist.«
»Wollen Sie etwa behaupten, daß der alte Herr, mit dem Dr. Courtine und Mr. Fickling Tee getrunken haben, ein Gespenst war?« Der junge Arzt schwieg und starrte ihn verdrossen und, wie mir schien, arrogant an, während die Zuhörer kicherten. Als wieder Ruhe herrschte, fragte der Coroner: »Wann und wo haben Sie Ihr Examen gemacht, Dr. Carpenter?«
»Vor zwei Jahren im St. Thomas.«
»Und wie viele Ermordete haben Sie in der Zwischenzeit gesehen?«
»Zwei.«
»War einer davon erwürgt worden?«
»Nein, den einen hat man erstochen und den anderen erschossen. Aber als Student hatte ich das Glück, sechs Monate lang als Famulus mit Dr. Tallentire unterwegs zu sein, der ständig von Scotland Yard konsultiert wurde. In dieser Zeit habe ich eine Menge über Gerichtsmedizin gelernt.«
»Als Student?« fragte Mr. Attard sarkastisch. Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er fort: »Ich danke Ihnen für Ihre Aussage, Dr. Carpenter.«
Mit rotem Kopf ging der junge Mann zu seinem Platz zurück. Als nächsten Zeugen rief der Coroner Mr. Thorrold auf. Er erhob sich, trat in den Zeugenstand und wurde vereidigt. Er erklärte, daß er der Rechtsanwalt des Verstorbenen gewesen sei und vor etwa zwanzig Jahren für ihn sein Testament abgefaßt habe. Laut diesem Testament sollte sein gesamtes Vermögen an die Stiftung der Kathedrale von Thurchester gehen, zur
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