Die schwarze Kathedrale
würde.«
Der Coroner sah mich überrascht an, erwiderte jedoch sehr entgegenkommend: »Die Geschworenen und ich wären sehr dankbar für die Unterstützung eines Gelehrten von Ihrem Ansehen, Dr. Courtine.«
»Ich danke Ihnen, Mr. Attard. Ich glaube, daß der Sergeant recht hat mir seiner Vermutung, daß Mr. Stonex gestern nachmittag noch einen Besucher erwartet hat. Er hat mir gegenüber nämlich erwähnt, daß er als Kind im neuen Dekanat mit einem Bruder gespielt habe.«
Die Zuhörer begannen wieder zu tuscheln, und der Coroner warf ein: »Ich lebe mein ganzes Leben lang in Thurchester, und mir ist noch nie etwas zu Ohren gekommen, daß der Verstorbene einen Bruder gehabt hätte.«
»Richtig. Darum erscheint mir diese Bemerkung ja auch so wichtig, und ich bin sicher, daß Mr. Stonex auch nicht die Absicht hatte, das zu sagen; die Bemerkung muß ihm entschlüpft sein, weil er gerade an diesen Bruder gedacht hat.«
»Sie meinen also«, fragte der Coroner mit verlegenem Gesicht, »daß er einen natürlichen Bruder hatte?«
»Nein, Mr. Attard. Ich glaube, daß es sich möglicherweise um einen Halbbruder aus einer früheren heimlichen Ehe handelt. Ich könnte mir vorstellen, daß er älter war als der Verstorbene und seine Schwester.«
»Die Unregelmäßigkeiten im Privatleben des Vaters waren stadtbekannt«, meinte der Coroner ernst.
Ich nickte und dachte an das Porträt des Vaters von Mr. Stonex und an das, was der alte Herr über dessen ausschweifendes Leben erzählt hatte. »Ich habe den Verdacht, daß dieser Bruder aus einem bestimmten Grund Macht über ihn hatte und ihn in gewisser Weise erpreßte.«
»Sie vermuten, daß der Verstorbene ihn durch Betrug von der Erbschaft ausschloß?«
»Das wäre denkbar. Aber wenn der ältere Bruder wußte, daß seine Mutter noch am Leben war, als der Vater die Mutter der beiden jüngeren Kinder heiratete, hätte er nachweisen können, daß diese Ehe Bigamie und daher ungültig war. Dann hätte er einen größeren Anspruch auf das Vermögen des Vaters als die beiden anderen Kinder. Möglicherweise hat er den Verstorbenen jahrelang erpreßt. Wie dem auch immer sei, ich vermute, daß er kurzfristig seinen Besuch angekündigt und damit eine Krise ausgelöst hat.«
»Dann könnte das also der Grund sein, warum Mr. Stonex den Termin der Einladung zum Tee so plötzlich geändert hat«, meinte Mr. Attard.
»Genau. Ferner vermute ich, daß der alte Herr vor der Ankunft des Bruders unbedingt etwas finden wollte, das er verlegt hatte, und daß er den Bericht über den Mord an Dekan Freeth, den er angeblich gesucht hatte, als Ausrede benutzte, um den Umstand zu begründen, daß er gesamte Haus buchstäblich auf den Kopf gestellt hatte.«
»Diese Erklärung ist genial und klingt sehr überzeugend«, bemerkte der Coroner, und zu meiner Befriedigung hörte ich am zustimmenden Gemurmel der Zuschauer und der Geschworenen, daß sie seine Meinung teilten. Slattery lächelte mich an, und Dr. Locard beugte sich gespannt auf seinem Sitz vor.
»Ich erinnere mich noch an etwas anderes, das diese Annahme unterstützt. Kurz bevor wir gingen, schaute Mr. Stonex auch noch im Kasten seiner Großvateruhr nach. Er zog etwas heraus, ohne mich einen Blick darauf werfen zu lassen, und im nachhinein nehme ich an, daß er gefunden hatte, wonach er suchte.«
»Und was soll das Ihrer Meinung nach gewesen sein?«
»Ich vermute, sein Testament.«
Als ich diese Worte aussprach, bemerkte ich aus den Augenwinkeln, daß Dr. Locard aufgeregt mit dem Rechtsanwalt zu flüstern begann, der neben ihm saß.
»Es kommt mir sehr seltsam vor, daß er das ganze Haus auf den Kopf gestellt hat, um nach seinem eigenen Testament zu suchen.«
»Er war ein alter Mann und vielleicht ein bißchen vergeßlich geworden.«
»Aber warum war es ihm so wichtig, es zu finden?«
»Darf ich fortfahren, meine Hypothese darzulegen und alle Dinge in der richtigen Reihenfolge zu erläutern?«
»Das dürfen Sie selbstverständlich, Dr. Courtine«, erwiderte der Coroner und nickte höflich. »Wie Sie sehen, haben Sie die volle Aufmerksamkeit des Gerichts für – wenn ich so sagen darf – Ihren Sachverstand als Ermittler.«
»Vielen Dank, Mr. Attard. Um zu erklären, was meiner Meinung nach geschehen ist, muß ich auf die mit Kreide geschriebene Nachricht auf einer Kindertafel zurückkommen, die Mr. Perkins, wie er dem Major gegenüber aussagte, vorgefunden hatte. Ich kann die Wahrheit dieser Aussage bestätigen, weil ich die
Weitere Kostenlose Bücher