Die schwarze Kathedrale
›Vita‹, das erhalten geblieben ist. Deshalb verschwand die ganze Geschichte aus dem Text, und übrig blieb nichts als ein sinnloser Satz, an dem zu erkennen ist, daß etwas fehlt.«
Ich versuchte, meine Enttäuschung zu verbergen. »Ich gratuliere Ihnen zu dieser großartigen wissenschaftlichen Leistung, Dr. Locard.«
»Überdies«, fuhr er fort, als habe er mein Kompliment nicht gehört oder hielte es nicht für nötig, davon Notiz zu nehmen, »habe ich noch einen weiteren Beleg für diese Interpretation entdeckt. Die Ereignisse, die an dieser Stelle der ›Vita Constantini‹ beschrieben sind, fanden im Jahr 968 statt. Ich habe diverse Annalen jener Epoche durchgesehen und im ›Chronicon de Ostenberg‹ folgende Eintragung zu diesem Datum gefunden: Zum großen Entsetzen aller Menschen floh die Sonne am zweiundzwanzigsten Tag des Dezembers dieses Jahres kurz nach Mittag mehrere Minuten lang vom Himmel.«
Er sah begeistert auf. »Ja, das ist schlüssig«, stimmte ich zu. »Dann kann man es wohl als erwiesen ansehen, daß Leofranc diese Seite aus dem fränkischen Manuskript entnommen und als Quelle für sein ›Leben‹ verwendet hat.«
»Und sie umgeschrieben hat, um Alfred und Wulflac zu glorifizieren«, fügte er hinzu.
Meine Entdeckung war also weit davon entfernt, die Authentizität von Grimbalds ›Leben‹ zu bestätigen; sie bewies statt dessen, daß Leofranc das Werk erfunden hatte. Und sie weckte ernste Zweifel, daß Wulflac jemals existiert hatte. Dr. Locard hatte all meine Hoffnungen zerstört, eine grundlegende Neueinschätzung Alfreds zu bewirken, und er hatte das fertiggebracht, obwohl er auf diesem Gebiet nur ein Amateur war. Ich fühlte mich gedemütigt. Ich sagte mir, daß ich ein ebenso guter Historiker sei wie er, obwohl er offensichtlich sämtliche Quellen, die in mein Fachgebiet fielen, gelesen hatte und ein erstaunliches Gedächtnis und verblüffende linguistische Fähigkeiten besaß. Ich hatte jedoch den Eindruck, daß er alles mit seiner Logik zerstückelte, daß er ein Zerstörer ohne schöpferische Gaben war, daß er so kalt und logisch und phantasielos war, daß er keinen Zugang zum Geist der Geschichte hatte. Außerdem blieb er in diesem Augenblick seines Triumphes unsympathisch teilnahmslos. Ich glaube fast, daß ich ihn in diesem Moment haßte, weil er seinen Sieg über mich nicht genoß. Er betrug sich, als stehe er so hoch über mir, daß es ihm keine Freude bereitete, mich restlos zerstört zu sehen. Mein einziger Trost war, daß sich herausgestellt hatte, daß das Manuskript, durch das Alfred als Betrüger und Feigling entlarvt zu werden schien, nichts mit ihm zu tun hatte. Es blieb nur noch eine wichtige Frage, die geklärt werden mußte. »Was planen Sie bezüglich der Veröffentlichung, Dr. Locard?«
»Das Dokument ist so bedeutend, daß die Wissenschaft so bald wie möglich davon erfahren sollte. Es beweist unwiderleglich, daß der gesamte Grimbald als Quelle abzulehnen ist. Was im Idealfall wünschenswert wäre, ist eine wissenschaftliche Ausgabe des Manuskripts, zusammen mit den Quellen, die im Zusammenhang damit stehen. Das würde mehrere Bände ergeben.«
»Ich gebe Ihnen vollkommen recht«, stimmte ich aufgeregt zu. »Aber ein solches Vorhaben wäre selbst für einen der Universitätsverlage schlichtweg zu teuer.«
»Das Manuskript wurde in dieser Bibliothek gefunden, wo es seit fast achthundert Jahren geschlummert hat«, sagte er mit der stillen Leidenschaft des Archivars. »Leofranc war hier Bischof. Ich würde es gerne sehen, wenn das Domkapitel dieses Projekt unterstützen würde. Die ›Annales Thurcastrienses‹.«
Ich starrte ihn verblüfft an. »Wäre das denkbar?«
Er sah mich nachdenklich an. »Möglicherweise ja. Gegenwärtig werden die Finanzmittel der Stiftung von anderen Aufgaben in Anspruch genommen, aber das würde sich ändern, sobald gewisse Gelder zur Verfügung stehen.«
Eine Weile herrschte Schweigen. »Eine solche Edition«, bemerkte ich vorsichtig, »müßte von einem Wissenschaftler mit umfassenden Kenntnissen der Epoche und der Quellen vorgenommen werden.«
»Benötigt würde ein Direktor, der das ganze Unternehmen leiten würde – der durchaus ein Fellow von Oxford oder Cambridge sein könnte, denn seine Anwesenheit in Thurchester wäre nicht allzuoft erforderlich, weil er einen oder mehrere Assistenten bekäme, die hier arbeiten würden. Sie sind einer der drei oder vier anerkannt besten Fachleute auf diesem Gebiet, und nachdem
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