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Die schwarze Kathedrale

Die schwarze Kathedrale

Titel: Die schwarze Kathedrale Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Palliser
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jener Nacht geschah? Ich kann nur meine Schlüsse ziehen, und das können Sie ebenso gut wie ich. Vermutlich sogar besser.«
    Wenn Burgoyne den Jungen getötet hatte, mußte er ein Motiv gehabt haben; ein sehr mächtiges Motiv. Was könnte das gewesen sein? Plötzlich wurde mir klar, was Dr. Locard hatte andeuten wollen. Ich warf einen Blick auf Mrs. Locard, die gerade etwas mit dem Hausmädchen beredete. »Ich glaube, ich weiß jetzt, wen Burgoyne anklagen wollte.«
    Er nickte. In diesem Moment wandte sich seine Frau uns wieder zu und sagte: »Entschuldigen Sie, Dr. Courtine. Sie hatten gerade gesagt, daß der arme Domherr vom Steinmetzen ermordet wurde. Aber wer hat dann ihn getötet?«
    »Das ist eine gute Frage«, erwiderte ich.
    »Limbrick«, behauptete Dr. Locard, »der Stellvertreter des Steinmetzen.« Als er mein skeptisches Gesicht bemerkte, fragte er: »Wenn er keinen zweiten Mann bei sich gehabt hätte, wie hätte Gambrill dann die Marmorplatte auf ihren Platz hieven sollen, hinter der er Burgoyne bei lebendigem Leibe eingemauert hat?«
    Ich zuckte die Achseln. »Hätten denn zwei Männer das schaffen können?«
    »Mit Hilfe des Flaschenzugs, der für diesen Zweck auf dem Gerüst bereitstand, war das ohne weiteres möglich. Die Marmorplatte wurde durch bleierne Gegengewichte im Gleichgewicht gehalten, so daß sie sie langsam herunterlassen und an die richtige Position bringen konnten.«
    »Auch für zwei Männer wäre das sehr schwierig gewesen«, murmelte ich.
    »Haben Sie denn eine bessere Erklärung, Dr. Courtine?« fragte er mit dünnem Lächeln.
    »Ich kann auch nicht mehr tun, als mir eine Hypothese zurechtzulegen. Aber ich glaube, ich kann mir vorstellen, was in jener Nacht geschehen ist …«
    »Wir müssen uns an die Fakten halten und dürfen nichts dazuerfinden«, unterbrach mich der Bibliothekar. »Nach den erwiesenen Tatsachen, die wir haben, muß es sich so abgespielt haben: Als Burgoyne sich an diesem Abend den Schlüssel holte und in die Kathedrale ging, folgten ihm Gambrill und Limbrick. Sie griffen ihn an, schlugen ihn bewußtlos und glaubten vermutlich, ihn getötet zu haben. Dann trugen sie ihn auf das Gerüst, legten ihn in das Loch in der Wand und verschlossen es mit der Marmortafel.«
    »Dieses Unterfangen wäre selbst für fünf oder sechs Männer schwierig gewesen«, gab ich zu bedenken. Seine Hypothese erschien mir sehr viel phantastischer als meine eigene.
    Dr. Locard nickte zum Zeichen, daß er meinen Einwand zur Kenntnis genommen hatte, beachtete ihn aber weiter nicht. »Dann ermordete Limbrick Gambrill, indem er das Gerüst über ihm zum Einsturz brachte.«
    »Warum zogen sie Burgoyne sein Gewand aus, und warum zog Gambrill es an?«
    »Das ist ein unwichtiges Detail.«
    »Eine wirklich überzeugende Theorie müßte alles erklären.«
    Mein Gastgeber erhob sich, um das Roastbeef aufzuschneiden, das vom Hausmädchen auf den Tisch gestellt worden war, und meinte: »Das ist eine unrealistische Hoffnung und, wenn ich so sagen darf, für einen Historiker auch eine höchst eigenartige.«
    Seine Bemerkung ließ mich zusammenzucken, aber ich dachte mir, daß meine Rache darin bestehen würde, den Beweis dafür zu finden, daß er sich irrte. Mit seiner Angewohnheit, alles mit Hilfe der Logik zu zergliedern, verabsäumte er es, das Element des Unbekannten mit zu berücksichtigen, und dazu brauchte man Vorstellungskraft. Ich brachte ein Lächeln zustande. »Wir haben ganz unterschiedliche Methoden, ein Problem anzugehen. Meiner Ansicht nach ist der beste Prüfstein einer Hypothese die Frage, ob sie auch die Unstimmigkeiten erklärt. Es ist nicht schwierig, eine Theorie aufzustellen, die die wichtigsten Aspekte einer Sache grob erklärt. Aber wenn sie nur anwendbar ist, wenn man die schwierigsten Elemente ignoriert, dann kann eine solche Hypothese nicht als ausreichende Erklärung betrachtet werden.«
    »Was würde denn Ihren Ansprüchen genügen, Dr. Courtine?«
    »Eine Theorie, die, selbst wenn sie in einigen Einzelheiten etwas bizarr sein sollte, alle Unstimmigkeiten erklärt. Und um auf eine solche Geschichte zu kommen, muß man häufig auf seine Vorstellungskraft zurückgreifen.«
    Dr. Locard zog vor Abscheu die Lippen zusammen. »Das ist ganz gewiß nicht die Aufgabe des Historikers.«
    »Aber die Alternative ist ein Zerstörungsakt, der ebenso schändlich ist. Überall, wo die Quellen widersprüchlich oder absurd sind, werden sie als Ergebnis von Mißverständnissen oder als

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