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Die schwarze Kathedrale

Die schwarze Kathedrale

Titel: Die schwarze Kathedrale Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Palliser
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Gebäude am unteren Domplatz. Das Dienstmädchen, das mir die Tür öffnete, nahm mir Hut und Mantel ab und teilte mir mit, sie habe die Anweisung, mich in das Studierzimmer ihres Herrn zu führen. Dort also fand ich meinen Gastgeber wenig später bei einem prasselnden Kaminfeuer hinter seinem Schreibtisch am Fenster vor. Er erhob sich und begrüßte mich herzlich. »Ich habe mir das Manuskript noch einmal angesehen«, sagte er und deutete auf den Schreibtisch.
    »Sie haben es hier?«
    »Eines der wenigen Privilegien, die mit meinem Amt verbunden sind«, sagte er lächelnd, »ist das Recht, Manuskripte und Bücher aus der Bibliothek zu privaten Studien mit nach Hause zu nehmen. Hätten Sie Lust, sich zu setzten, damit wir es uns noch einmal zusammen ansehen können?«
    »Ja, sicher!«
    Wir ließen uns am Schreibtisch nieder. »Ich nehme an, daß es Sie interessieren wird«, sagte er, »daß ich die Quelle dazu gefunden habe.«
    »Die Quelle?« Ich starrte ihn verblüfft an.
    »Als wir uns das Manuskript heute morgen ansahen, kam mir etwas daran bekannt vor.«
    »Sie sprachen von einem unschönen Stilmittel, für das der Verfasser eine Schwäche habe, ohne es jedoch näher zu beschreiben.«
    »Er macht exzessiven Gebrauch vom Superlativ. Ich war mir ganz sicher, daß ich dergleichen schon einmal gelesen hatte, und dann fiel mir dies hier ein.« Er nahm ein Buch in die Hand, das auf dem Schreibtisch lag, und klappte es auf. »Es ist die ›Vita Constantini‹! Dabei handelt es sich, wie Sie vermutlich wissen, um die Lebensbeschreibung eines fränkischen Heiligen aus dem zehnten Jahrhundert, die im elften Jahrhundert verfaßt wurde.«
    »Das ist aber ein oder zwei Jahrhunderte später als Grimbald. Wie kann das seine Quelle sein?«
    »Haben Sie noch einen Augenblick Geduld mit mir, Dr. Courtine. Ich möchte damit beginnen, einige Sätze der ausschlaggebenden Stelle im Text vorzulesen, und muß dazu sagen, daß der Autor davon spricht, wie tapfer der heilige Konstantin den Herrschern seiner Zeit entgegentrat.« Er las den lateinischen Text vor und übersetzte jeweils nach einigen Sätzen: »König Hagebart hatte wenig Respekt für die Männer der Kirche, wie sein Verhalten gegen den gelehrten Bischof Gregorius, den Märtyrer, deutlich zeigt.«
    » Doctissimus und apertissime !« rief ich aus. »Da haben wir schon zwei von Ihren häßlichen Superlativen.«
    »Und das im gleichen Satz!« fügte er schaudernd hinzu. »Und jetzt kommt der eigentlich interessante Abschnitt: Weil der König als Junge ein Schüler des Bischofs Gregorius gewesen war, als der gebildete alte Mann die Söhne und Neffen des alten Königs, Hagebarts Vater, unterrichtet hatte, begrub er ihn nicht mit Ehren oder auch nur mit Anstand, wie es bei einem so gebildeten und heiligen Mann seine Pflicht gewesen wäre.« Er sah mich triumphierend an.
    »Was ist daran so bedeutsam, Dr. Locard?«
    »Die Auslassung.«
    »Ich fürchte, ich verstehe nicht, was Sie meinen.«
    »Es ist doch sinnlos, daß der König seinen alten Lehrer nicht mit den nötigen Ehren begraben ließ, weil er sein Schüler gewesen war.«
    »Sie haben recht. Jedenfalls, wenn man nicht eine extrem negative Vorstellung von der Beziehung zwischen Lehrer und Schüler hat.«
    Er fuhr fort, ohne auf meinen Scherz einzugehen: »Aber wenn wir den Text, den Sie gefunden haben, in diesen rätselhaften Satz einfügen, werden wir feststellen, daß der neue Satz an beiden Schnittstellen sinnvoll ist. Und jetzt erklärt der Bericht über den Tod des Bischofs genau das, was der Autor sagen will. Der erste Satz des Manuskripts, das Sie heute morgen gefunden haben, müßte lauten: Weil der König als Junge ein Schüler des Bischofs Gregorius gewesen war, als der gebildete alte Mann die Söhne und Neffen des alten Königs, Hagebarts Vater, unterrichtet hatte, waren der König und der Märtyrer einst enge Freunde gewesen. Und der letzte Satz müßte lauten: Überdies hatte er so wenig Respekt für den erschlagenen Bischof, daß er ihn nicht mit Ehren oder auch nur mit Anstand begrub, wie es bei einem so gelehrten und heiligen Mann seine Pflicht gewesen wäre.«
    Nachdem ich die beiden Sätze noch mehrere Male gelesen und darüber nachgedacht hatte, mußte ich zugeben, daß seine Theorie schlüssig war.
    »Jemand hat die Seite, die Sie gefunden haben, aus dem Manuskript der ›Vita Constantini‹ herausgenommen«, sagte Dr. Locard. »Und zufällig – oder auch absichtlich – war dies das einzige Exemplar der

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