Die schwarze Kathedrale
schwierigen Umständen auch ihren Sohn auf. Als dieser heranwuchs, war er voller Haß, und zwar sowohl auf seinen Vater, der seine Mutter und ihn verlassen hatte, als auch auf seinen Onkel, der sich weigerte, den Anteil seiner Mutter an dem gemeinsamen Erbe herauszurücken. Seine Mutter nannte sich Mrs. Stonex und gab vor, die Witwe eines Mitglieds der bekannten Familie aus dem Westen des Landes zu sein, die diesen Namen trug. Vielleicht hoffte sie ja, daß ihr Sohn eines Tages von ihrem unverheirateten Bruder als Erbe anerkannt würde. Sie durchkreuzte jedoch ihre eigenen Pläne, indem sie in ihrem Haß ihren Sohn gegen ihren Bruder aufhetzte, von dem sie annahm, er habe ihnen beiden bitteres Unrecht zugefügt. Sie erinnerte ihn ständig daran, daß sie selbst nicht so hart für ihren Lebensunterhalt arbeiten müßte und er eine glänzende Zukunft vor sich hätte, wenn sie bekommen hätten, was ihnen nach Recht und Gesetz zustand. Das Ergebnis war, daß der Junge, der sich als wild und rebellisch erwies, seinen Onkel für das, was er ihnen angetan hatte, so sehr verabscheute, daß er mit achtzehn Jahren von dieser Seite seiner Verwandtschaft nichts mehr wissen wollte und den Namen seines leiblichen Vaters annahm. Er versuchte, ihn ausfindig zu machen, und ging nach Irland, um Anspruch auf die Verwandtschaft mit den großen Familien Ormonde und de Burgh zu erheben, von denen sein Vater immer behauptet hatte, daß sie eng mit ihm verwandt seien. Dort aber wies man ihm ganz unzeremoniell die Tür und bestritt, daß er oder sein Vater irgendeine Verbindung zu ihnen habe. Nun machte er sich daran, seinen Vater aufzuspüren, mußte aber feststellen, daß er ein hoffnungsloser Säufer war, der vollkommen verschuldet und mit einer neuen Familie mit unehelichen Kindern belastet war. Er machte ihm die bittersten Vorwürfe und gab ihm die Schuld an seinem ganzen Unglück, einschließlich der Tatsache, daß er hinkte, obwohl dies nicht die Folge eines von seinem Vater verschuldeten Unfalls, sondern ein Geburtsfehler war. Nachdem er in dieser Richtung enttäuscht worden war, entwickelte er ein leidenschaftliches Interesse an der Familie seiner Mutter und dem gestohlenen Erbe. Aber während er von der angeblich adeligen Abstammung seines Vaters erst geblendet und dann bitter enttäuscht worden war, nachdem er der Wahrheit auf die Spur gekommen war, empfand er für seinen Onkel stets nichts als Abscheu und den Wunsch nach Vergeltung.
Ich interessierte mich ganz besonders für das, was Miss Napier über das spätere Schicksal der Schwester des Opfers herausgefunden hatte, nachdem sie das Vermögen geerbt hatte. Das hing mit der Angelegenheit zusammen, wegen der der Bibliothekar mir schrieb. Er teilte mir mit, daß Professor Courtine, der nach seiner Versetzung in den Ruhestand als Emeritus Fellow nach Cambridge zurückgekehrt war, der Verwaltung seines College einen versiegelten Bericht hinterlassen habe, von dem er annahm, daß er ein neues Licht auf den Fall Stonex werfen würde. In einem Begleitschreiben, das er einige Jahre vor seinem Tod verfaßt hatte, verlangte der Professor, daß der Brief erst fünfzehn Jahre nach seinem Tod geöffnet werden dürfe (ein Zeitraum, der, wie der Bibliothekar erklärte, gerade abgelaufen sei), und auch nur dann, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt seien. Aus diesem Grund wandte sich der Bibliothekar jetzt um Hilfe an mich. Ich schrieb zurück, daß ich ihm jede Unterstützung zukommen lassen wolle, zu der ich in der Lage sei. In seinem nächsten Brief schickte er deshalb eine Abschrift von Dr. Courtines Begleitbrief mit. Ich brauche kaum zu sagen, wie überrascht ich war, daß ein Bericht von jemandem, der so sehr in jene Ereignisse verstrickt gewesen war, erst nach so vielen Jahren bekannt wurde. Und natürlich lag mir sehr daran, daß die Bedingungen für die Veröffentlichung möglichst bald erfüllt würden. Ich hatte niemals damit gerechnet, daß meine Version der Ereignisse – die eines zwölfjährigen Knaben – Glauben finden würde. Jetzt wußte ich, daß hiermit eine Zeugenaussage vorlag, die meine eigene Aussage bestätigen würde, und zwar die Aussage eines zweiten Zeugen, der an jenem schicksalhaften Nachmittag im neuen Dekanat gewesen war und gute Gründe gehabt hatte, einiges von dem, was er wußte, für sich zu behalten.
Obwohl ich damals nichts von Dr. Courtines Existenz gewußt hatte, hatte er, wie ich beim Lesen seines Berichts entdeckte, bemerkt, was mir an jenem Morgen
Weitere Kostenlose Bücher