Die schwarze Kathedrale
den Fall zu verraten, was nicht sowieso schon allgemein bekannt war. Aber weil mir der offene und freundliche Ton ihres Briefes gefiel, bot ich ihr an, das Manuskript zu lesen, um sie vor Fehlern bei der Darstellung der Fakten zu bewahren, wie sie in dem Zeitungsartikel vorgekommen waren. Ich erklärte ihr jedoch, daß ich ihr unter keinen Umständen irgendwelche Ratschläge bezüglich der in dem Manuskript enthaltenen Spekulationen erteilen würde. Die Autorin dankte mir und akzeptierte diese Bedingungen.
Einige Monate später erhielt ich also das Manuskript, berichtigte einige Tatsachen und wurde in der »Danksagung« erwähnt. Dieser Hinweis auf meine Person zusammen mit meinem früheren Brief an die Zeitung führten auf einigen Umwegen dazu, daß ich jetzt der Herausgeber des vorangestellten Berichts bin. Nachdem mein Name in dem Buch aufgetaucht war, in dem ich als Lehrer und Archivar der Chorschule bezeichnet wurde, schrieb mir der Bibliothekar des Colchester College vor etwa einem Jahr einen Brief. (Ich sollte vielleicht erklären, daß ich, nachdem ich mein Studium abgeschlossen hatte, als Lehrer an die Schule zurückgekehrt bin, an der ich so unglücklich gewesen war. Ob ich von dem Wunsch geleitet wurde, mein eigenes Elend zum Anlaß zu nehmen, anderen eine bessere Behandlung zuteil werden zu lassen, oder ob ich nur deshalb dorthin zurückkehrte, weil ich wie ein Gespenst den Schauplatz meiner alten Qualen wieder aufsuchen mußte, kann ich nicht sagen. Damals waren bereits neun Jahre seit dem Tod von Mr. Stonex vergangen, und die meisten der von Dr. Courtine beschriebenen Personen waren längst nicht mehr da. Aber dies soll kein Bericht über mein Leben werden, das für keinen Außenstehenden besonders interessant sein kann und selbst für mich zunehmend uninteressant wird. Deshalb will ich nichts weiter darüber sagen.)
Die Theorie, die Miss Napier im »Geheimnis von Thurchester« vertrat, wurde viel diskutiert und allgemein akzeptiert. Für mich war sie von nur geringem Interesse, da ich ja wußte, daß sie falsch war. Es bereitete mir großes Vergnügen, die hitzigen Diskussionen mitzuverfolgen, die in vielen Häusern und in den Bars der Stadt darüber ausgefochten wurden. Ich schüttelte ernst den Kopf, wenn sich jemand an mich wandte, in der Meinung, ich müsse aus erster Hand darüber Bescheid wissen, was sich an jenem Nachmittag im neuen Dekanat abgespielt hatte. Es wäre wohl ehrlicher gewesen zu sagen, daß ich es vorzog, nichts von dem verlauten zu lassen, was ich wußte. Obwohl das Buch von Miss Napier keine Tatsachen über den Mord enthielt, die ich nicht schon kannte, war ich fasziniert von dem Material, das sie über die Jugend des Opfers, seine Beziehung zu seiner Schwester und seinem ungewöhnlichen Vater sowie über das weitere Leben der Betroffenen zusammengetragen hatte.
Miss Napier fand nämlich heraus, daß Mr. Stonex sofort nach dem Tod seines Vaters dem gesamten Luxus, den dieser über seine Tochter ausgeschüttet hatte – teure Kleider, eine Zofe, einander ablösende Gouvernanten, die sie herumkommandierte, eine Ponykutsche, die zu ihrer alleinigen Verfügung stand –, ein abruptes Ende setzte. Das eigenwillige, verwöhnte junge Mädchen mußte der Meinung sein, daß er sich für die Jahre der Demütigungen und Verachtung, die er von ihrem Vater erfahren hatte, an ihr rächte. Es trifft zu, daß er sich während der nächsten zwei Jahre weigerte, ihr auch nur einen Pfennig des gemeinsamen Erbes zuzusagen, und daß er sie so vernachlässigte, daß sie sich mit dem Schauspieler treffen konnte, mit dem sie dann schließlich durchbrannte. Miss Napier bestätigte auch, daß Mr. Stonex ihr fünf Jahre später, als sie volljährig wurde und ihren Anteil an der angeblich so großen Erbschaft forderte, gar nichts gab. Sie trugen vor Gericht eine erbitterte Schlacht aus, und es ist durchaus möglich, daß er ihre Ansprüche mit unredlichen Mitteln unterdrückte. Miss Napier fand jedoch heraus, daß er einen guten Grund für seine Handlungsweise hatte. Als der Schauspieler und Vater ihres Kindes feststellte, daß sie niemals zu Geld kommen würde, verließ er sie. Sie stand nun ohne alle Einkünfte da, ihr Versuch, auf der Bühne eine Karriere zu machen, war gescheitert, und sie mußte sich eine Stellung als Haushälterin suchen, die sie schließlich in Harrogate fand. Auf diese Weise verdiente sie sich in den nächsten fünfundzwanzig Jahren ihren Lebensunterhalt. Dort zog sie unter
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