Die schwarze Kathedrale
Gesicht. »Vielen Dank«, sagte er.
Etwas verlegen erklärte ich: »Es ist ein herausragender Beitrag zur Debatte über die Chronologie.«
»Es war sehr freundlich von dir, daran zu denken. Es ist ganz bestimmt eine außerordentlich intelligente Arbeit.« Er tat so, als würde das Buch ihn interessieren, klappte es auf und warf einen Blick hinein.
»Der Autor ist Fellow von Colchester, was für dich und mich die beste Empfehlung sein dürfte, die es überhaupt geben kann. Und in seinem Fachgebiet ist er wahrhaftig brillant. Ich weiß, daß du seine Meinung nicht teilen wirst, aber er argumentiert, daß die Beweise, die wir aus der Geologie gewonnen haben, das Datum der Schöpfung um Millionen von Jahren zurückverlegen. Ich glaube, daß …«
»Ich schätze, daß dieses Manuskript der Grund ist, weshalb du ein Treffen mit Locard arrangiert hast?« unterbrach er mich.
»Ich nehme an, daß du ihn kennst?«
»O ja, sicher kenne ich ihn. Ich kenne ihn als kaltherzigen, ehrgeizigen und staubtrockenen Pedanten. Er ist einer der Männer, für den die äußere Hülle wichtiger ist als der Inhalt, die Form mehr Bedeutung hat als die Substanz. Er ist einer der Männer, die im Leben immer nur Zaungast waren und zuviel Angst hatten, um mehr als nur einen Zeh ins Wasser zu tauchen.«
»Es ist mir egal, wie trocken Dr. Locard seine Füße hält, solange er von seiner Arbeit etwas versteht«, sagte ich mit einem Lächeln.
»Vielleicht versteht er sein Geschäft als Wissenschaftler, aber ganz bestimmt nicht als Kirchenmann. Unter seiner Verkleidung als Ritualist fehlt es ihm ebenso am Glauben wie dem Autor von diesem hier.« Er klopfte auf das Buch. »Wie so viele in unserem Zeitalter hat er den Kern der Religion aufgegeben und sich in Äußerlichkeiten geflüchtet. Aber all diese wissenschaftlichen Hypothesen von Affen und Fossilien und Galaxien sind irrelevant. Die Tatsache, daß alles durch eine Art rationalistisch-wissenschaftliche Theorie erklärt werden kann, wie man sie wohl bezeichnen könnte, bedeutet nicht, daß es nichts Übergeordnetes gäbe.«
»So, du meinst also, daß Gott die Fossilien in die Erde gelegt hat, als er die Welt an einem Montag morgen im Jahr 4004 vor Christus erschuf, um damit unseren Glauben zu prüfen, wie einige deiner geschätzten Glaubensgenossen behaupten?«
»Nein, das meine ich nicht. Wenn du mir den Gefallen erweisen würdest zu versuchen, meinen Argumenten zu folgen, könntest du vielleicht begreifen, was ich dir erklären will.«
Ich spürte in seinen harten Worten die ganze Frustration eines gescheiten Menschen, der weiß, daß er all seine Chancen vertan hat. Wir schwiegen eine Zeitlang. »Ich hoffe, du hast dir Dr. Locard nicht zum Feind gemacht«, sagte ich schließlich und dachte an das, was der alte Gazzard mir erzählt hatte. »Er ist offenbar ein mächtiger Mann.«
»Mächtig? Was sollte er mir schon antun können?« erwiderte er und warf das Buch neben sich auf den Boden.
»Im schlimmsten Fall könnte er dafür sorgen, daß du womöglich deinen Posten verlierst.«
»Ja, im weltlichen Sinn ist er mächtig, wenn es das ist, worauf du hinauswillst.«
»Wie würdest du leben, wenn du keine Stellung mehr hättest?«
»Ziemlich ärmlich. Ich habe keine anderen Einkommensquellen und auch keine Freunde, die mir unter die Arme greifen könnten. Aber glaubst du wirklich, daß ich den Verlust meines Postens bedauern würde – Lumpenschüler in dieser gräßlichen Kleinstadt zu unterrichten? Ich sehne mich danach, wieder nach Italien zu gehen. Du weißt doch noch, daß ich einmal dort war?«
»Aber Austin, wovon würdest du leben? Selbst in Italien würdest du irgendein Einkommen brauchen.«
»Du reduzierst alles auf Geld und Posten. Ja siehst du denn nicht, daß nichts davon wirklich wichtig ist? Nicht im Endeffekt jedenfalls.«
»Und was ist dann wichtig?« wollte ich wissen.
Er starrte mich mit einem unergründlichen Blick an, und als mir klar wurde, daß er nicht die Absicht hatte, mir zu antworten, fragte ich: »Meinst du, daß das einzige, worauf es ankommt, dein Seelenheil ist?«
Ich hatte versucht, jeden Sarkasmus in meinem Tonfall zu vermeiden, als ich diese Worte aussprach. Aber Austin lächelte bitter. »Gerade eben hast du mir vorgeworfen, an ›mein ewiges Leben und all diesen Blödsinn‹ zu glauben.«
»Dafür entschuldige ich mich. Ich habe mich einen Augenblick lang vergessen. Es widerspricht meinen Prinzipien, mich über den Glauben anderer lustig zu
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