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Die schwarze Kathedrale

Die schwarze Kathedrale

Titel: Die schwarze Kathedrale Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Palliser
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machen.«
    »Auch wenn er noch so lächerlich ist?« fragte er ohne den leisesten Anflug von Ironie.
    »Historisch gesehen haben die meisten Menschen in den meisten Gesellschaften an ein Weiterleben der Seele nach dem Tod geglaubt. Wenn du also an eine himmlische Belohnung glaubst, hast du zumindest das Gewicht der Meinung der Mehrheit auf deiner Seite.«
    Er hob die Hand, um mich zum Schweigen zu bringen. »Ich habe mich wohl nicht klar genug ausgedrückt. Ich glaube tatsächlich an das Gute und das Böse und an Erlösung und Verdammnis. Ich akzeptiere sie ganz und gar und bedingungslos. Sie sind für mich so real wie der Stuhl, auf dem ich sitze, vielleicht sogar noch realer. Du meinst, daß die Vorstellung von einem ewigen Leben mich verlockt, aber ich kann dir versichern, daß die Verdammnis mir sehr viel realer und überzeugender erscheint als die Erlösung, und ganz bestimmt wahrscheinlicher.«
    Gerade in dem Augenblick, als ich glaubte, ich sei nahe daran, ihn zu verstehen, wurde mir der Zugang zu ihm wieder versperrt. »Warum sagst du das jetzt?«
    Er starrte mir in die Augen, bis ich wegsah. »Erlaube mir, dir die Frage zu stellen, die du mir gerade gestellt hast: Was ist dir wirklich wichtig?«
    Es fiel mir schwer, eine Antwort zu finden. »Ich nehme an, meine Arbeit als Wissenschaftler. Wahrheit. Menschlichkeit.« Ich brach ab. »Lieber Gott, Austin, das ist eine Frage für Studenten. Das, worauf es ankommt, ist zu versuchen, ein anständiges Leben zu führen. Zu versuchen, sein Bestes zu geben. Ich meine, zu versuchen, anderen Menschen gegenüber Respekt und Verständnis zu zeigen. Und ein gewisses Maß an intellektueller Erfüllung, sozialer Stellung, an finanziellem Auskommen und ästhetischer Freude zu finden.«
    »Da hast du den Unterschied zwischen uns beiden. Laß mich die Sache mal so formulieren: Wenn du dein Leben als eine Reise beschreiben müßtest, was würdest du sagen?«
    »Ich verstehe dich nicht.«
    »Ich meine, daß für dich das Leben eine langsame Wanderung über eine weite Ebene ist – du kannst das Land, das vor und hinter dir liegt, meilenweit sehen.«
    »Ich verstehe. Und du siehst dein Leben nicht so?«
    Er lächelte. »Schwerlich. Für mich ist das Leben eine gefährliche Reise durch dichten Nebel und Dunkelheit auf einem schmalen Grat, mit tiefen Abgründen auf beiden Seiten. In manchen Augenblicken heben sich der Nebel und die Dunkelheit, und ich kann die schwindelerregenden Abgründe erkennen, aber dann sehe ich auch den Gipfel, auf den ich zuwandere.«
    »Auch mein Leben ist nicht frei von Augenblicken unerwarteter Erregung. Als ich zum Beispiel den Hinweis auf die Möglichkeit fand, daß sich in der hiesigen Bibliothek das Manuskript befinden könnte …«
    »Ich spreche nicht von Manuskripten«, fiel mir Austin ins Wort. »Wie steht es mit der Leidenschaft?«
    Ich lächelte verwirrt. »In unserem Alter, Austin …«
    »In unserem Alter! Was für ein Unsinn. Du redest wie ein alter Mann.«
    »Austin, wir sind wirklich nicht mehr jung. Wir sind beide fast fünfzig!«
    »Fünfzig! Das ist doch kein Alter! Wir haben noch mehrere Jahrzehnte vor uns.«
    »Wie dem auch sei, ich hatte jedenfalls genug Leidenschaft für ein Leben.«
    »Ich nehme an, du sprichst von …«
    »Sprich nicht davon, Austin. Wirklich, ich habe nicht das Bedürfnis, diese Wunde wieder aufzureißen.«
    »Und seitdem?«
    »Seitdem?«
    »Das ist nun über zwanzig Jahre her. Hat denn alles bis auf dein Berufsleben damals aufgehört?«
    »Mein Berufsleben – das dir offenbar ziemlich unbedeutend erscheint – ist reich und lohnend. Ich habe meine Schüler, meine Kollegen, meine Aufsätze und meine Bücher. Ich glaube, daß ich in meinem College und in meinem Fach respektiert werde. Ich glaube, ich kann sogar sagen, daß viele von den jungen Männern, die ich unterrichte, mir ein gewisses Maß an Zuneigung entgegenbringen, ebenso wie ich ihnen.«
    »Du sprichst davon, als sei das alles Vergangenheit. Ja hast du denn nicht den Wunsch, diese Professur zu bekommen, oder läßt es dich völlig kalt, wenn dieser Scuttard – so heißt er doch – sie kriegt?«
    »Ich habe dir gesagt, daß ich mich nicht danach drängen werde. Das wäre auch zu riskant.«
    »Riskant?«
    »Wenn bekannt würde, daß ich mich erfolglos darum bemüht habe, wäre das ziemlich peinlich.«
    »Und so was nennst du ein Risiko?«
    »Ich brauche keinen Lehrstuhl. Mein Berufsleben ist auch so schon erfüllt genug.«
    »Na schön.« Er lehnte sich

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