Die schwarze Kathedrale
zurück. »Hast du niemals mit dem Gedanken gespielt, wieder zu heiraten?«
»Ich bin immer noch verheiratet«, erwiderte ich kurz. Er sah mich streng an, und ich setzte hinzu: »Jedenfalls soviel ich weiß.«
»Soviel du weißt. Nun, ich kann dir sagen …«
»Ich will es nicht wissen. Ich habe dir gesagt, daß ich nicht darüber reden will.«
»Hat dein Liebesleben vor zwanzig Jahren aufgehört? Hast du seither nie zärtliche Gefühle für jemanden gehegt?« Sein Ton war ungeduldig und keineswegs einfühlsam.
»Wie sollte ich? Ich war nicht frei für dergleichen. Und außerdem hatte ich, wie ich schon gesagt habe, mein Quantum an Leidenschaft für mein Leben.« Angesichts seines forschenden Blickes fügte ich – wohl ziemlich töricht – hinzu: »Ich bin mit meinem Leben vollkommen glücklich.«
»Glück«, sagte er leise, »ist sehr viel mehr als nur die Freiheit von Schmerz.«
»Das mag sein, aber ich möchte nicht noch einmal riskieren, das gleiche Elend durchzumachen wie vor zwanzig Jahren. Ich bin mit der Freiheit von Schmerz zufrieden.«
»Wie kannst du das sagen? Das einzige, worauf es im Leben ankommt, ist die Leidenschaft. Das einzige!«
Viele Antworten fielen mir ein – daß das, was wir Leidenschaft nennen, oft nur ein kindlicher Wunsch nach Erregung ist, der Wunsch, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen –, doch die Worte erstarben mir auf den Lippen, als ich sein Gesicht sah. Es war so voller Intensität, so voller Konzentration. Ich wandte den Blick ab. Wovon in aller Welt sprach er nur? Was war das für eine Leidenschaft, die sein Leben so aufregend machte? Und wer war das Objekt dieser Leidenschaft? Es war seltsam, im Zusammenhang mit einem Mann unseres Alters an Leidenschaft zu denken. Und doch, vielleicht hatte er recht. Falls er von Liebe sprach, hatte er sogar ganz bestimmt recht. Aber das Wort Liebe hatte Austin ja nicht verwandt.
»Was verstehst du unter Leidenschaft?« wollte ich wissen. »Mußt du mich das fragen? Ich meine, daß wir nicht in und für uns selbst existieren, sondern nur insoweit, wie wir von der Vorstellungskraft eines anderen Menschen neu geschaffen werden, indem wir so vollständig wie möglich in das Leben dieses anderen Menschen eindringen, mit unserer Phantasie, intellektuell, physisch und emotional – und mit all den Konflikten, die dadurch unvermeidlich werden.«
»Das finde ich nicht. Ich glaube, daß wir vollkommen allein sind. Was du da beschreibst, ist ein vorübergehender Zustand der Besessenheit.« Ich lächelte. »Vorübergehend, selbst wenn er in einigen Fällen ein Leben lang andauert.«
»Wir sind nur dann allein, wenn wir das wollen.«
Ich teilte seine Meinung nicht, antwortete aber nicht darauf. Ich war neugierig geworden. »Unterscheidet sich das, was du Leidenschaft nennst, denn so sehr von Liebe und Zuneigung?«
Er dachte einen Augenblick nach, bevor er sagte: »Ich möchte es mal so ausdrücken: Leidenschaft ist dann im Spiel, wenn das Objekt deiner Leidenschaft dich bitten kann, etwas zu tun, das alle deine moralischen Grundsätze sprengt, und du dich trotzdem dazu bereit erklärst.«
»Du meinst so etwas wie lügen oder stehlen?«
Er lächelte. »Ja, wenn du so willst. Oder vielleicht sogar noch Schlimmeres, falls du dir das überhaupt vorstellen kannst.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, daß ich so etwas täte.«
»Nein, das kannst du wohl wirklich nicht.«
Nach einer Weile fragte ich: »Dann darf ich also annehmen, daß es im Augenblick ein Objekt deiner Leidenschaft gibt?«
Er nickte wortlos.
»Ich bin fasziniert«, sagte ich und schwieg eine Weile, um ihm Gelegenheit zu geben, mehr zu erzählen, wenn er wollte. Er sagte jedoch nichts. Wer konnte sie sein, diese geheimnisvolle Person, die er liebte? Konnte das etwas mit dem Grund zu tun haben, weshalb er mich hierher eingeladen hatte? War das die Ursache für die Schwierigkeiten, in denen er meiner Überzeugung nach steckte? »Sag mir, hat es dich glücklich gemacht, dieser Leidenschaft zu folgen?«
»Glücklich?« Er lachte. »Glück ist etwas, das man empfindet, wenn man an einem schönen Tag spazierengeht oder wenn man nach einem angenehmen Abend mit Freunden wieder nach Hause kommt. Nein, es hat mich nicht glücklich gemacht. Es hat mich in den Abgrund tiefster Verzweiflung gestürzt. Es hat mich zu den höchsten Höhen der Verzückung getragen.« Und dann murmelte er fast im Flüsterton, so daß ich nicht wirklich sicher war, diese Worte gehört zu haben:
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