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Die schwarze Kathedrale

Die schwarze Kathedrale

Titel: Die schwarze Kathedrale Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Palliser
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hätte das alles zu jedem gesagt, der das Pech gehabt hätte, auf dem Stuhl zu sitzen, auf dem du gerade sitzt.« Er wandte sich ab. »Ich will ganz ehrlich zu dir sein: In den letzten Wochen bin ich gefährlich nah an den Rand meiner Existenz gekommen.«
    »Willst du mir davon erzählen?«
    Er wandte mir sein gequältes Gesicht zu. »Das kann ich nicht. Aber kannst du dir vorstellen, in einer so unerträglichen Situation zu sein, daß du allen Ernstes den Selbstmord als einzigen Ausweg in Betracht ziehst?«
    »Lieber Gott, du darfst dir nicht gestatten, an so etwas Schreckliches auch nur zu denken! Sag mir, daß du das nicht ernst meinst.«
    Langsam breitete sich ein sardonisches Lächeln auf seinem Gesicht aus. »Ich habe diese Möglichkeit ausgeschlossen. Wenigstens in dieser Hinsicht kannst du dich beruhigen.«
    »Hast du wirklich nicht genug Vertrauen zu mir, um mir zu sagen, worum es sich handelt, Austin?«
    »Du wirst bis zum Samstag bleiben?«
    »Also gut. Ja, ich bleibe.«
    »Gott segne dich, alter Freund.«
    Ich wartete darauf, daß er weitersprach, aber es war offensichtlich, daß er nicht die Absicht hatte, sich mir anzuvertrauen. Gerade wollte ich das Thema, das er berührt hatte, doch noch einmal anschneiden, als die Uhr auf dem Treppenabsatz einmal schlug. »Ist es schon so spät?« rief ich aus.
    »Es ist noch viel später«, antwortete Austin und zog seine Uhr aus der Tasche. »Hast du die Kirchturmuhr nicht gehört? Es ist fast zwei. Der Regulator auf der Treppe geht ziemlich falsch.«
    »Warum läßt du ihn dann nicht reparieren?« fragte ich.
    Er lächelte.
    Irritierender, rätselhafter, undurchschaubarer Austin! Ich hatte ihn geliebt, als wir beide jung gewesen waren, und der Gedanke, seine Freundschaft verloren zu haben, hatte mich zutiefst bekümmert. »Ich habe morgen sehr viel zu tun«, erklärte ich. »Ich sollte zu Bett gehen.«
    Wir schüttelten einander die Hand und trennten uns. Ich ging als erster hinauf und fand die Treppe und die Kammer nach der Wärme im Wohnzimmer entsetzlich kalt. Als ich den Vorhang ein wenig zur Seite zog, sah ich, daß der Nebel noch dichter war als zuvor. Austin ging die Treppe hinunter, und zwanzig Minuten später hörte ich ihn wieder heraufkommen und in sein Zimmer auf der anderen Seite des Treppenabsatzes gehen. Ich legte mich ins Bett und las noch eine halbe Stunde lang – eine Angewohnheit, ohne die ich nicht einschlafen kann –, aber diesmal fiel es mir schwer, mich zu konzentrieren.
    Austins Ausbruch hatte mich in Aufregung versetzt. Ich konnte mich nicht erinnern, daß er als Student derart reizbar gewesen wäre. Es mußte daran liegen, daß ihn soviel bedrückte. Wieder fragte ich mich, in wen er wohl verliebt sein könnte und ob es diese Affäre war, die seine Stellung an der Schule gefährdete. Die Frau eines Kollegen? Die Mutter eines Schülers?
    Ich konnte die Neuigkeit nicht aus meinen Gedanken verbannen, mit der er mich konfrontiert hatte. Damals hatte ich die Verbindung zu bestimmten Freunden und Bekannten abgebrochen, weil ich mich vor derartigem Wissen schützen wollte. Warum hatte Austin darauf bestanden, über die Vergangenheit zu reden und mir von dieser grausamen Tatsache zu erzählen? Hatte er das Bedürfnis, seine Schuld zu sühnen? Ich hatte nicht das geringste Anzeichen des Bedauerns für die Rolle – die sehr bedeutende Rolle –, die er damals gespielt hatte, an ihm bemerkt.
    Alles, was ich mir vor fünfundzwanzig Jahren gewünscht hatte, waren ein Leben als Wissenschaftler, eine Frau und Kinder gewesen, doch Austin hatte damals ganz offensichtlich anderes im Sinn. Ich hatte immer gedacht, er hätte weniger gewollt als ich, aber jetzt begann ich mich zu fragen, ob er nicht vielleicht sogar mehr gewollt hatte. Es war ihm nicht gelungen, den akademischen Grad zu erlangen, zu dem seine Gaben ihn befähigt hätten, weil er ausgerechnet vor dem Examen in eine seiner peinlichen Affären verwickelt gewesen war. Austin hatte immer etwas Nacktes, Gefährliches an sich gehabt, das ich fast vergessen hatte, bis ich jetzt eben wieder damit konfrontiert worden war. Er war fähig, ohne jede Würde und Selbstbeherrschung zu handeln. Hatten seine Frustration und sein Gefühl, versagt zu haben, ihn zu einem schwerwiegenden Fehlurteil verführt?
    Ich blies meine Kerze aus und versuchte zu schlafen. Austin hatte recht. Der Domplatz war vollkommen still. Es war wie im College während der Ferien. Fast zu still. Ich mußte daran denken, wie ich ein

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