Die schwarze Kathedrale
oder zwei Jahre nach der großen Zäsur in meinem Leben das Haus am Stadtrand von Cambridge zu ruhig gefunden hatte und wieder in meine alten Junggesellenräume im College gezogen war. Während des Semesters ist der Lärm der Studenten tröstlich und nur gelegentlich störend. Aber während der Ferien wirkt die Stille bedrückend.
Der einzige Laut, der zu vernehmen war, kam von der Uhr der Kathedrale, die jede Viertelstunde schlug, und wenn ihr tiefer Stundenschlag ertönte, antwortete das Schlagen der anderen Kirchturmuhren, das gedämpft durch den dichten Nebel drang, der über der Stadt lag wie ein Ozean, durch dessen Oberfläche die Türme ragten. Abgesehen davon gab es nur noch Geräusche aus dem Inneren des Hauses, dessen Hölzer knarrten wie die Gelenke eines alten Mannes – als ob das alte Gebäude vor Schmerz über seinen langen Niedergang stöhnte. Ich dachte an alles, was in diesem Haus geschehen sein mußte, an die Menschen, die gestorben waren, die Babys, die zur Welt gekommen waren, die Trauer und das Lachen. Das Knarzen erinnerte an die stöhnenden Planken eines hölzernen Schiffes. Dieses Haus war auch ein Schiff, und das Wolkenmeer befand sich über unserem Kopf. Dann war es also ein Schiff, das unter der Wasseroberfläche dahinfuhr? Während sich mein Kopf mit solchem Unsinn füllte, sank ich in Schlaf oder zumindest in eine Art Halbschlaf.
Plötzlich wachte ich wieder auf. Eine ganze Weile lag ich da und fragte mich, was mich wohl aufgeschreckt haben könnte. Dann hörte ich es wieder, dieses Geräusch, das bis in meine Träume gedrungen war. Es war ein wimmernder Schrei, ein Zwischending zwischen einem Aufschrei und einem Schluchzen – fast unmenschlich. In meinem Halbschlaf glaubte ich zuerst, es sei der Geist, dessen Geschichte Austin mir erzählt hatte. Aber der Schrei war real, und er kam von irgendwoher innerhalb des Hauses. Ich entzündete meine Kerze. Die zuckenden Schatten, die jetzt durch mein Zimmer huschten, trugen nicht gerade dazu bei, meine Ängste zu beschwichtigen. Irgendwie fand ich dennoch den Mut, aufzustehen, einen Schlafrock anzuziehen und auf den Treppenabsatz hinauszugehen. Wie ich vermutet hatte, kam der Lärm aus Austins Zimmer. Ich klopfte, öffnete einen Augenblick später die Tür und trat ein.
Im trüben Licht erkannte ich eine Gestalt auf dem Bett. Ich hob die Kerze und sah, daß Austin im Nachthemd auf seiner Bettdecke kniete. Er hielt sich mit den Händen die Ohren zu, als wolle er sich vor einem lauten Geräusch schützen. Seine Augen waren weit aufgerissen, und er schien etwas am Fußende des Bettes anzustarren. Als ich seine dürren Beine unter dem Nachthemd herausragen sah, kämpften Mitleid und Abscheu in mir, so weiß und knochig waren sie.
Beim Anblick seines blassen, sensiblen Gesichts, das in diesem Augenblick unverhüllten Schmerz ausdrückte, fühlte ich trotz allem, was er getan hatte, einen Anflug von Zuneigung. War es wirklich Zuneigung zu dem Mann, der da vor mir kniete, oder Trauer um den Jüngling, der er einmal gewesen war?
Ich ging auf das Bett zu. Er sah mich an – jedenfalls waren seine Augen geöffnet und auf mich gerichtet. Es war ein sehr seltsames Gefühl festzustellen, daß er mich anstarrte, ohne mich wahrzunehmen. Ich hatte nicht die geringste Vorstellung, wen oder was er sah.
Er sprach mich an und doch wieder nicht, als er anfing zu reden: »Sie sagt, daß er das seit Jahren verdient hat. Sie sagt, es sei keine Rache, sondern Gerechtigkeit. Er hat sich all die Jahre der Strafe entzogen.«
»Austin«, flüsterte ich. »Ich bin’s, Ned!«
Sein Gesicht war mir immer noch zugewandt und sein Blick hing an meinem Gesicht, ohne mich zu erkennen. »Seine Rechnung muß beglichen werden«, sagte er. »Das hat sie gesagt. Und sie sagt, daß sie es selbst tun wird, wenn wir es nicht gemeinsam tun wollen.«
Ich nahm ihn in die Arme und drückte ihn an mich. »Austin«, sprach ich ihn an. »Mein lieber Freund.«
Er fuhr zusammen, und als er mich mit weit offenen Augen ansah, dämmerte plötzlich Erkennen in seinem Blick. Einen Moment lang verharrte er in meinen Armen, dann stieß er mich brüsk von sich.
»Mein lieber alter Freund«, sagte ich. »Es tut mir so leid, dich in solcher Verzweiflung zu sehen. Kann ich irgend etwas tun, um dir zu helfen?«
»Dafür ist es zu spät.« Er atmete schwer, dann fügte er hinzu: »Mir fehlt nichts. Geh wieder ins Bett.«
»Lieber Austin, ich möchte dich nicht in einem solchen Zustand allein
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