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Die schwarze Kathedrale

Die schwarze Kathedrale

Titel: Die schwarze Kathedrale Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Palliser
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daß ich sofort zur Bibliothek des Domkapitels gehen würde, in der Hoffnung, Gelegenheit zu bekommen, mit Dr. Locard zu sprechen, obwohl mein Brief ihn erst gestern erreicht haben konnte. Austin sagte mir, daß seine Verpflichtungen ihn bis zum Abend in Anspruch nehmen würden, daß wir aber zusammen in der Stadt zu Abend essen könnten.
    Wir verließen das Haus, und Austin schloß die Tür hinter sich. »Du kannst kommen und gehen, wie du willst. Einen Schlüssel wirst du nicht brauchen.«
    »Sperrst du die Tür denn nicht ab?« fragte ich. »Das tue ich nie. Aber ich verstecke die Schlüssel.«
    Ich überlegte, was er wohl damit meinte, denn es erschien mir seltsam, den Türschlüssel zu verstecken, wenn die Tür selbst nicht verschlossen war. Aber da er den Schlüssel beim Weggehen in die Tasche steckte, hatte er wohl andere Schlüssel gemeint.
    Auf dem Domplatz war es genauso kalt und nebelig wie am Vortag. Ich sah nach oben und bemerkte etliche Tauben, die unter dem Dachgesims der Kathedrale kauerten, und dachte mir, daß man im Nebel manchmal klarer sieht als sonst, weil man nämlich genauer hinschauen muß. Beim Anblick der Vögel, die auf dem schmalen Gesims einen kunstvollen Tanz vollführten, mußte ich an ein schottisches Schloß denken, in dem ich mich einmal aufgehalten hatte. Es stand auf einer gefährlichen Klippe am Meer. Unser Zimmer befand sich ganz oben in einem hohen Turm, und die Möwen setzten sich halsbrecherisch auf die Fensterbretter und stießen ihre melancholischen Schreie aus wie Wahrsager, die sich nicht zum Schweigen bringen lassen wollen.
    Austin schnitt eine Grimasse und erklärte mir, daß er sich die Freude versagen müsse – so drückte er sich aus –, mich mit Dr. Locard bekannt zu machen, weil er für seine erste Unterrichtsstunde bereits zu spät dran sei. Aber er wies mich zur Südostecke des oberen Domplatzes, wo sich die Bibliothek befand, und eilte davon.
    Als ich die abgetretenen Steinstufen emporkletterte und eine schwere Eichentür aufstieß, stieg mir der Geruch nach antiken Büchern, nach altem Leder, Bienenwachs und Kerzen in die Nase. Ich blickte in eine schöne Galerie, denn die Bibliothek war ursprünglich der große Saal der Abtei gewesen. Dieses Stockwerk wurde in regelmäßigen Abständen von Wänden unterbrochen, die im rechten Winkel zu den Außenmauern standen und an denen Bücherregale aufgestellt waren, so daß nur ein schmaler Durchgang in der Mitte blieb. Die Wände waren schwere, alte Eichenkonstruktionen, die sich mehrere Meter über Mannshöhe erhoben. Dieser Trakt war die alte Kettenbibliothek – und viele Bücher wurden bis heute mit Ketten gesichert.
    Ein junger Mann saß an einem Schreibtisch in der Nähe der Tür und erhob sich, als ich eintrat. Ich sagte ihm, daß ich Dr. Locard sprechen wolle und daß ich ihm geschrieben habe. Zu meiner Freude antwortete er, daß mich der Bibliothekar bereits erwarte. Er bat mich, ihm zu folgen.
    »Es muß schön sein, hier zu arbeiten«, meinte ich, als wir uns anschickten, durch den Mittelgang der Galerie zu gehen.
    Mein Begleiter war ein wenig dicklich und etwa Ende Zwanzig. Sein Gesicht ließ sich zwar nicht als schön bezeichnen, doch sah man ihm an, daß sein Besitzer intelligent und geistreich war. Er nickte eifrig. »Im Sommer ist es wirklich wunderschön, aber im Winter ist es für meinen Geschmack ein bißchen dunkel und kalt.«
    »Ich finde es auch jetzt ganz behaglich und freundlich«, erwiderte ich. »Und man könnte fast das Gefühl haben, man sei im siebzehnten Jahrhundert, so wenig scheint hier modernisiert worden zu sein.«
    Wir gingen durch eine Tür am Ende der Galerie in einen Trakt des Gebäudes, der früher einmal ein eigenständiges Bauwerk gewesen sein mußte, als sich der junge Mann noch einmal umwandte und sagte: »Sie haben vollkommen recht. Ich habe oft das Gefühl, als ob mir einige der außerordentlichen Persönlichkeiten, die damals hier gearbeitet haben, über die Schulter blicken würden. Burgoyne, Freeth und Hollingrake.«
    »Das kann aber nicht besonders beruhigend sein«, wandte ich ein. Er lachte, dann machte er wieder ein ernstes Gesicht, klopfte an eine Tür zu unserer Linken und trat ein, ohne auf ein Herein zu warten. Wir standen in einem großen, altertümlichen Raum, dessen Wände ganz mit Eichenholz vertäfelt waren, mit einer Reihe von hohen schweren Schaukästen und einem großen, schwarzen Bücherregal, das mit alten ledergebundenen Folianten gefüllt war. An

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