Die schwarze Kathedrale
einem Schreibtisch unter dem Fenster saß ein Mann, der sich bei unserem Anblick erhob. Er war hochgewachsen, Mitte Fünfzig und immer noch gut aussehend, mit forschenden grauen Augen, die viel Verstand und wenig Wärme ausstrahlten. Dr. Locard war mir als ausgezeichneter Wissenschaftler – wenn auch nicht in meinem eigenen Fachgebiet – sowie als hervorragender Kenner der lateinischen Sprache bekannt.
Er begrüßte mich mit Namen, und wir schüttelten einander die Hand. Auf seine Aufforderung hin setzte ich mich, und er machte mich mit meinem Begleiter bekannt, der, wie er erklärte, sein erster Assistent war und Quitregard hieß. Der junge Mann machte Anstalten zu gehen, aber als er an der Tür ankam, rief Dr. Locard ihm zu: »Würden Sie bitte Pomerance sagen, daß er Kaffee für meinen Gast und mich bringen soll?« Er drehte sich zu mir um. »Sie würden doch gern eine Tasse Kaffee trinken?«
Ich nahm das Angebot dankend an.
Quitregard jedoch antwortete: »Pomerance ist noch nicht da, Sir. Möchten Sie, daß ich den Kaffee serviere?«
»Bitte machen Sie sich meinetwegen keine Mühe«, rief ich schnell. »Ich habe gerade gefrühstückt.«
»Also gut. Dann werden wir warten, bis Mr. Pomerance sich herbeiläßt, uns mit seiner Gegenwart zu beehren.«
Quitregard ging, und Dr. Locard nickte in Richtung auf die geschlossene Tür. »Dieser junge Mann wird einmal ein guter Bibliothekar werden. Sein Latein ist ausgezeichnet, und er ist mit einer ganzen Reihe von Schriftarten vertraut.«
Ich sagte ihm, daß sein Assistent auch auf mich einen sehr positiven Eindruck gemacht habe; dann wandten wir uns meinem Anliegen zu.
»Ihr Brief ist gestern angekommen, und ich bin fasziniert davon«, erklärte der Bibliothekar. »Obwohl das Thema weit entfernt von meinem eigenen Fachgebiet liegt, hat die Bibliothek doch die ›Proceedings of the English Historical Society‹ abonniert, und so habe ich zufällig sowohl Ihren Artikel als auch Scuttards Antwort darauf gelesen.«
»Das freut mich zu hören. Aber ich will doch hoffen, daß Sie sich nicht von Scuttards Argumenten haben überzeugen lassen?«
»Ich würde nicht im Traum daran denken, zu einem derart komplizierten Thema außerhalb meines eigenen Fachgebietes eine Meinung zu äußern. Aber er ist sehr überzeugend. Er ist ein Wissenschaftler von bemerkenswerten Fähigkeiten, und obwohl er kaum vierzig Jahre alt ist, hat er bereits Erstaunliches geleistet, so daß man noch Größeres von ihm erwarten darf. Sein Buch über das achte Jahrhundert hat viel von dem Nebel unbewiesener Vermutungen hinweggefegt, der dieses Thema bisher verdunkelt hat.«
Ich fühlte mich von dieser Antwort ziemlich vor den Kopf gestoßen. »Nun, wie dem auch sei – ich bin der Meinung, daß er einige brillante Einsichten früherer Historiker zu eilfertig von der Hand weist, in dieser Hinsicht irrt er jedenfalls.«
Dr. Locard sah mich leidenschaftslos an. »Wenn Sie das finden, was Sie zu finden hoffen, werden Sie seine Argumentation vollständig widerlegen können. Was ich an Ihrem Brief allerdings nicht verstehe, ist, warum Sie so optimistisch sind.«
»Ich weiß nicht, ob Ihnen der Name des Gelehrten und Herausgebers alter Urkunden, Ralph Pepperdine, bekannt ist?«
Dr. Locard nickte. »Der Autor von ›De Antiquitatibus Britanniae‹?«
»Genau der. Er ist im Jahr 1689 gestorben und hat seine Papiere seinem alten College hinterlassen, das zufälligerweise nun auch das meine ist. Leider sind sie niemals genau untersucht worden. Gerade erst vor zwei Wochen habe ich sie durchgesehen, weil ich die Absicht hatte, in diese Stadt zu kommen, und ich mich erinnerte, daß Pepperdine ebenfalls einmal hier war. Ich fand einen Brief, den er 1663 geschrieben hat, als er diese Bibliothek besuchte.«
»Tatsächlich? Ich könnte mir vorstellen, daß dieser Brief einige interessante Einblicke in die Stiftung zu jener schwierigen Zeit eröffnet.«
»So ist es, und außerdem enthält er etwas, das, wie i.ch meine, von besonderem Interesse für Sie sein dürfte.« Ich zog die handgeschriebene Kopie, die ich angefertigt hatte, aus meiner Aktentasche. »Pepperdine bringt nämlich den Bericht eines Augenzeugen vom Tod des Dekans Freeth.«
»Wirklich? Und unterscheidet er sich wesentlich von der bisher angenommenen Version?«
»Daß sein Tod die Folge einer falschen Auslegung der erteilten Befehle und vollkommen unbeabsichtigt war?«
»Ja, obwohl diese Darstellung von dem verantwortlichen Offizier stammt,
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