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Die schwarze Kathedrale

Die schwarze Kathedrale

Titel: Die schwarze Kathedrale Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Palliser
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der jeden Grund hatte, den Tod des Dekans in dieser Weise zu begründen.«
    »Pepperdine liefert eine völlig andere Erklärung.«
    Dr. Locard lächelte. »Das macht alle bestehenden Diskussionen über das Ereignis irrelevant. Wenn es einmal einen kompetenten Historiker der Stiftung geben sollte, wird er in Ihrer Schuld stehen.«
    »Gibt es denn noch keine solche Geschichte?«
    »Nichts seit einem langatmigen Werk, das Mitte des vorigen Jahrhunderts veröffentlicht wurde. Und es ist auch nichts von Wert in Aussicht, obwohl einige amateurhafte Versuche unternommen werden, bei denen ein höchst unwissenschaftlicher Gebrauch von den Quellen gemacht wird. Was sagt Pepperdine denn?«
    »Der Anfang seines Briefes braucht uns nicht aufzuhalten. Er beschreibt seine Reise und den Zustand der Straßen, und er erzählt, daß er sich bereits seit zwei Wochen in der Stadt aufhält und bei seinem alten Freund, dem Bischof, im Palast wohnt. Jetzt kommt der interessante Teil:
    Gestern hörte ich beim Abendessen mit dem Herrn Dekan einen Bericht über den Tod des verblichenen Dekans, der die allgemein verbreitete Geschichte Lügen straft. Nachdem die Truppen der Regierung die Stadt erobert hatten, machten sie bekanntlich den Dekan in schändlicher Weise zum Gefangenen in seinem eigenen Hause, weil er sehr stark der Partei des Königs zuneigte und zu befürchten stand, daß er das Volk zum Widerstand aufstacheln könnte. Meine Informationen stammen von einem Mann namens Champniss, der seit mehr als vier Jahrzehnten als Domherr hier gelebt und den unglücklichen Freeth sehr geliebt hat. Am Morgen seines Todes sah Champniss, wie sechs anscheinend betrunkene Soldaten den Domplatz betraten und sich zu der Ecke durchdrängten, wo sich die Bibliothek befindet. Sie begannen, das Gebäude zu beschädigen – zerschmetterten die Fenster, plünderten und raubten. Der alte Mann erklärte mir, daß der Dekan dies von einem Fenster des Dekanats aus beobachtet haben müsse und daß er, erbost über diesen Akt der Schändung, aus seinem Haus eilte, um den Soldaten Einhalt zu gebieten, obwohl er damit den Arrest verletzte, unter den er gestellt worden war. Als Champniss sah, wie er in das Gebäude rannte, fürchtete er für sein Leben und hastete selbst dorthin, um die Soldaten zurückzuhalten. Als er eine oder zwei Minuten später um die Ecke des Gebäudes bog, fand er den Dekan vor den Soldaten auf dem Boden kniend vor. Er hielt ein Dokument an seine Brust gepreßt und betete. Champniss hörte, daß er Gott laut um Vergebung für seine Mörder bat, von denen einer noch ein Knabe und in Tränen war. Als Champniss herbeigeeilt kam, sah ihn der Dekan und bedeutete ihm mit einer Geste, sich zu entfernen. Zwei der Soldaten ergriffen Champniss und brachten ihn fort. Gerade in diesem Augenblick bemerkte er, wie sich ein Offizier näherte, der einen vollkommen unbegründeten Groll gegen den Dekan hegte. Als er wenige Sekunden später um die Ecke geschleppt wurde, hörte er zwei oder drei Schüsse. Während der alte Mann diese Geschehnisse schilderte, die sich vor etwa zwanzig Jahren ereignet hatten, standen ihm die Tränen in den Augen.«
    Ich hörte auf zu lesen. »Daraus geht eindeutig hervor, daß der Offizier selbst den Tod des Dekans angeordnet hat, nicht wahr?«
    »Das Bild, das Pepperdine entwirft, ist so symbolhaft, daß es Mißtrauen erregt.« Dr. Locard preßte die Lippen zu einem ironischen Lächeln zusammen. »Kennen Sie das Werk von Charles Landseer?« Ich nickte. »Diese Szene würde gut zu seiner süßlichen Sentimentalität passen, finden Sie nicht? Einschließlich des weinenden jungen Soldaten, denn in seinen Bildern wird fast immer auch ein hübscher Knabe dargestellt. Könnten Sie sich nicht ein Gemälde mit dem Titel vorstellen: ›Der Dekan von Thurchester betet für seine Mörder‹?«
    Ich lächelte. »Aber selbst wenn man voraussetzt, daß der alte Mann parteiisch war, wertet das seinen Bericht doch nicht ab.«
    »Natürlich nicht. Aber es ist auch möglich, daß Pepperdine die Worte des alten Herrn falsch wiedergegeben hat.«
    »Ich kann mir nicht vorstellen, warum er das hätte tun sollen.«
    Der Bibliothekar sah mich eine Weile fragend an. »Wirklich nicht? Wenn ich mit widersprüchlichen Quellen konfrontiert bin, ist es mein Prinzip als Historiker, mich zu fragen, ob es im Interesse der einzelnen Zeugen gelegen haben könnte, die Ereignisse auf eine ganz bestimmte Weise darzustellen. Ich glaube, so hat man die besten Chancen,

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