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Die schwarze Kathedrale

Die schwarze Kathedrale

Titel: Die schwarze Kathedrale Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Palliser
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konnten, waren größtenteils die eigenen Urkunden der Stiftung – Berichte über den Zustand der Gebäude, Zinsrollen und dergleichen. Sie wurden in den Keller der neuen Bibliothek geschafft und seitdem kaum mehr eines Blickes gewürdigt. Die Bedeutenderen wurden hier heraufgebracht, um katalogisiert zu werden.« Er zeigte mir den Teil der Regale, wo die Manuskripte aufbewahrt wurden.
    »Und ist dies geschehen?«
    »Mit dieser Arbeit wurde erst vor acht Jahren begonnen, als ich Bibliothekar wurde.« Er hielt inne und fügte dann mit ruhigem Stolz hinzu: »Ich hoffe, dem Dekan und dem Domkapitel in weiteren sechs Monaten mitteilen zu können, daß wir fertig sind. Bei den Manuskripten, die noch nicht katalogisiert sind, handelt es sich größtenteils um solche, die 1643 schon in den Keller hätten gebracht werden sollen.«
    »Meinen Glückwunsch, Dr. Locard.«
    Wir stiegen die Treppe wieder hinunter, und als wir das untere Stockwerk durchquerten, entdeckten wir den jungen Assistenten an seinem Schreibtisch in einer der Nischen. »Ach, Quitregard«, sagte Dr. Locard, »würden Sie bitte eine Lampe holen und uns in den Keller begleiten?«
    Wenig später befanden wir uns in dem Trakt des Gebäudes, der als die neue Bibliothek bekannt ist und in dem sich der Zugang in den Keller befindet. Vorsichtig tasteten wir uns eine dunkle Treppe hinunter. Der junge Mann ging vor uns her und leuchtete uns. Das war auch dringend nötig, denn in diesem ehemaligen Keller der alten Halle gab es keine Gaslaternen, und es roch intensiv nach Staub und Spinnen und altem Papier.
    Der Keller war riesig. Mehrere Minuten lang führten mich die beiden Männer in einem Labyrinth aus alten Bücherregalen herum. Hinter jeder Ecke tauchten, vom flackernden Licht in Quitregards Hand beleuchtet, immer noch mehr Regale auf, die mit Bündeln vergilbter Manuskripte und alten, ledergebundenen Folianten beladen waren. Schlagartig wurde mir klar, daß Pepperdine recht hatte: Es würde Jahre und nicht nur Monate dauern, sich durch diese Berge von Papier und Pergament zu kämpfen. »Gott sei Dank«, sagte ich, »daß ich nicht hier unten suchen muß.«
    Dr. Locard blieb stehen und sah mich an. »Warum glauben Sie das?«
    »Ganz einfach: Weil Pepperdine hier nicht gesucht hat und das Manuskript deshalb auch nicht hier gefunden haben kann.«
    Dr. Locard schien einen Augenblick nachzusinnen, dann fragte er: »Sagen Sie mir, Dr. Courtine: War der Empfänger des Briefes an der angelsächsischen Periode wirklich so wenig interessiert, wie Pepperdine anzunehmen scheint?«
    »Seltsamerweise hat Bullivant sehr wertvolle Arbeit über die angelsächsische Periode geleistet und einiges an wichtigem Material gefunden und auch veröffentlicht.«
    »Dann ist es doch eigenartig, nicht wahr, daß Pepperdine das Manuskript als etwas bezeichnet, das ihn nicht interessieren würde?«
    »Sie scheinen in dem Zusammenhang eine Idee zu haben. Darf ich fragen, was Sie genau meinen?«
    »Nur, daß wir die Frage berücksichtigen sollten, an wen Pepperdine seinen Brief richtet und was für Beweggründe er haben könnte. Unter Gelehrten findet ebensoviel Konkurrenz wie Zusammenarbeit statt. Es ist wie bei einem Spiel: Man spielt, um zu gewinnen, aber an die Spielregeln muß man sich halten.«
    »Möchten Sie damit andeuten, daß er das Manuskript erfunden haben könnte«, fragte ich verärgert, »daß er in Wirklichkeit gar nichts gefunden hat?«
    »O nein, das wäre gegen die Spielregeln.«
    »Dann, fürchte ich, verstehe ich nicht, was Sie sagen wollen.«
    »Es ist möglich, daß das Erwähnen des Manuskripts der Köder für eine Falle war, mit dem Zweck, Bullivant hierherzulocken, damit er seine Zeit und sein Geld damit vergeudete, am falschen Ort zu suchen; Zeit und Geld, die er sonst für seinen Wissenschaftsstreit mit Pepperdine verwendet hätte.«
    Es mutete seltsam an, einen Geistlichen von derart verschlagenen Taktiken reden zu hören. Ich mußte jedoch an die Praktiken in meinem eigenen Forschungsbereich denken und zugeben, daß er im Prinzip recht hatte. »Aber Pepperdine sagt ausdrücklich, daß er die Manuskripte hier unten nicht durchgesehen hat. Selbst wenn Ihre Theorie zuträfe, hätte Bullivant sich nicht die Mühe gemacht, sie zu suchen.«
    »Lassen Sie uns den Brief noch einmal genauer betrachten.« Wir folgten Quitregard die Treppe hinauf, und der junge Mann wandte sich wieder seinen Pflichten zu. Nachdem wir in das Arbeitszimmer des Bibliothekars zurückgekehrt

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