Die schwarze Kathedrale
Ihnen dies hier wiederzugeben.«
»Sie haben den Entwurf schon gelesen?«
»Jedes Wort. Und ich würde gern mit Ihnen darüber reden und Ihre Meinung dazu hören.«
»Ach je, ich habe selbst noch nicht die Zeit gefunden, mich damit zu beschäftigen. Aber deshalb brenne ich um so mehr darauf, mich mit Ihnen darüber zu unterhalten und zu erfahren, was Dr. Sheldrick für die Wahrheit über die geheimnisvollsten Episoden in der Geschichte der Kathedrale hält. Ich weiß, daß es schon sehr spät ist, aber hätten Sie vielleicht Lust, mit zu mir nach Hause zu kommen und bei einem Glas Wein darüber zu reden?«
»Ich kann doch unmöglich um diese Uhrzeit bei Ihnen eindringen; das wäre höchst unangenehm für Ihre Frau.«
»Ganz im Gegenteil, ich weiß, daß sie sich sehr freuen würde, Sie kennenzulernen. Und sie hat gerade ihre Freundin, Mrs. Locard, bei sich. Als ich sie vor einer Stunde verließ, waren sie noch eifrigst ins Gespräch vertieft. Wir werden sie bestimmt noch bei ihren Diskussionen über Babykleidung und karitative Verpflichtungen vorfinden.«
Ich konnte seiner Einladung nicht widerstehen und folgte ihm, erleichtert, dem Gestank zu entkommen.
Nur ein oder zwei Minuten später standen wir vor seinem Haus. Es befand sich auf der gleichen Seite des Domplatzes wie das von Austin, war aber wesentlich größer, mit doppelter Fassade und Erkerfenstern im unteren Geschoß. Und da es an der Ecke stand, mit dem Eingang zum unteren Domplatz, mußte es bei Tageslicht einen hübschen Ausblick auf die Grünanlage bieten. Dr. Sisterson führte mich ins Wohnzimmer, wo wir seine Frau vorfanden, die jung und schlank war, sowie die Dame, von der ich wußte, daß sie Mrs. Locard war. Jede der beiden hielt ein Kleinkind auf dem Schoß, Mrs. Sisterson einen Jungen und Mrs. Locard ein Mädchen. Ein etwas älterer Junge und ein Mädchen spielten auf dem Teppich.
Dr. Sisterson stellte uns vor, und Mrs. Locard sagte: »Mein Mann hat mir schon von Ihnen erzählt, Dr. Courtine.«
»Ja«, stimmte Mrs. Sisterson ein. Sie schaukelte das Kind auf ihrem Schoß und sah ihm unverwandt ins Gesicht. »Ich habe gehört, wie Dr. Locard zu meinem Mann sagte, daß Sie ihm zeigen wollen, wie er seine Bibliothek leiten soll. Das ist außerordentlich großzügig von Ihnen.«
Es trat betretenes Schweigen ein, und ich sah, wie das Gesicht ihres Mannes vor Verlegenheit dunkelrot anlief. Mrs. Locard rettete uns alle, indem sie sagte, als sei nichts geschehen: »Mein Mann hat mir von Ihrer äußerst interessanten Theorie über ein verlorenes Manuskript erzählt.«
Wir unterhielten uns ein paar Minuten lang darüber. Man bot mir eine Tasse Tee an, und weil seine Frau beschäftigt war, schenkte der junge Domherr selbst den Tee für mich ein. Er erklärte, daß er mich soeben im Dom getroffen habe, und als Mrs. Locard fragte, ob das Problem dort gelöst sei, mußten wir gestehen, daß dies keineswegs der Fall war.
»Ich kann mich nicht erinnern, daß es jemals soviel Aufregung gegeben hätte wie in den letzten beiden Tagen!« rief Mrs. Sisterson aus. Sie wandte sich an ihren Mann. »Hat man irgendwelche Neuigkeiten über den armen Dr. Sheldrick?«
»Soviel ich weiß, nicht«, antwortete er. »Haben Sie schon erfahren, Dr. Courtine, daß der Kanzler gestern abend bestohlen wurde?«
»Liebe Güte! Ich hatte ja keine Ahnung. Hat er nicht gestern abend einen Empfang gegeben?«
»Das ist richtig. Tatsächlich war ich gerade von dort gekommen, als ich Sie gestern im Dom traf. Kurz nachdem ich in sein Haus zurückgekehrt war, wurde der Diebstahl bemerkt.«
»Ich glaube, es war der Dekan, der das Verbrechen entdeckte«, sagte Mrs. Locard.
»Stimmt. Dr. Sheldrick hatte ihn in seine Bibliothek geführt, um ihm seine neueste Erwerbung zu zeigen – er ist ein passionierter Sammler schöner alter Drucke –, und da fiel dem Dekan auf, daß ein Sekretär auf der anderen Seite des Raumes aufgebrochen worden war.«
»Wie scheußlich«, murmelte Mrs. Sisterson vage. Sie war ganz von dem Jungen auf ihren Knien in Anspruch genommen.
»Dr. Sheldrick stellte fest, daß nur ein Päckchen von der Größe und Dicke eines großen Buches fehlte. Darin befand sich, wie er sagte, ein Satz von fünf Miniaturen, und er wollte kein Aufhebens davon machen, aber der Dekan bestand darauf, die Polizei zu rufen.«
»Stellen Sie sich das doch einmal vor, daß er die Polizei nicht rufen wollte!« bemerkte Mrs. Sisterson. »Die Miniaturen müssen eine Menge wert
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