Die schwarze Kathedrale
am Domplatz lebten, nicht viel anders zuging als in einem College in Oxford oder Cambridge mit all den Animositäten und Rivalitäten, die dort gang und gäbe sind. Ich selbst habe die Erfahrung machen müssen, wie bitter und irrational solche Konflikte sein können.«
»Ich fürchte, das wissen wir alle«, stimmte Dr. Sisterson zu und sah die Frau des Bibliothekars an. Sie lächelte traurig und küßte den Kopf des Kindes, das in ihren Armen schlief.
»Der Dekan war bereits ein alter Mann, als Burgoyne nach Thurchester kam, und während der folgenden Jahre gewann der junge Domherr einen wachsenden Einfluß auf ihn, je mehr dessen körperliche und geistige Kräfte nachließen. Die anderen Domherren konnten oder wollten sich nicht gegen ihren Schatzmeister auflehnen, obwohl seine Macht vielen von ihnen ein Dorn im Auge war. Als Burgoyne in das Domkapitel eintrat, waren die Mehrzahl der Domherren Arminianer und neigten den alten katholischen Riten und Praktiken zu, wenngleich sie dem Katholizismus als solchem feindlich gegenüberstanden. Die meisten Einwohner der Stadt teilten ihre Ansichten. Viele von ihnen waren sogar heimlich Katholiken geblieben, obwohl das ausgesprochen gefährlich war. Während Laud Erzbischof von Canterbury war, befanden sich die Arminianer im Aufstieg, und Geistliche mit calvinistischen Neigungen wurden rücksichtslos verfolgt. Aber inzwischen hatte sich das alles geändert. Die calvinistische Fraktion hatte im Parlament und am Hof an Macht gewonnen, denn Laud hatte seine Möglichkeiten überschätzt, als er den König drängte, Krieg gegen die Schotten zu führen, um die Einführung seines Gebetbuches zu erzwingen. Die Katastrophe, die dies zur Folge hatte, hatte zu seinem Sturz geführt.
Während der zehn Jahre, die diesen Ereignissen vorangegangen waren, hatte es im Domkapitel viele Auseinandersetzungen zwischen dem prominentesten Calvinisten Burgoyne und den Traditionalisten gegeben, die vom Subdekan, Launcelot Freeth, angeführt wurden. Anlaß für den heftigsten Streit war der Bauzustand der Kathedrale gewesen, wegen dem es letztlich zum Eklat kam, wie ich noch erklären werde.
Bei all diesen Diskussionen waren Burgoyne und Freeth ebenbürtige Gegner gewesen, denn sie waren sich sehr ähnlich: gescheit, ehrgeizig und stolz. Aber während Burgoyne die Verachtung des Aristokraten für Verstellung und Intrige hegte, pflegte Freeth seine wahren Gefühle zu verbergen und erwies sich als skrupelloser Gegner. Aus bescheidenen Anfängen hatte er sich durch List und Tücke zu seiner Stellung als Subdekan heraufgearbeitet.«
»So stellt Dr. Sheldrick das dar?« fragte der junge Domherr.
»Ich habe ihn fast wörtlich zitiert«, bestätigte ich.
»Das scheint mir aber eine arg unfreundliche Beschreibung eines Mannes zu sein, der es durch harte Arbeit und Talent so weit gebracht hat«, erklärte er sanft.
Ich konnte ihn gut verstehen, schließlich hatte auch ich alle meine Erfolge durch eigene Anstrengung und nicht durch einflußreiche Gönner oder andere Vorteile erreicht, von denen Dr. Sheldrick so offensichtlich profitiert hatte. »Aber denken Sie an sein schändliches Betragen bezüglich der Schule der Domchorvikare«, wandte ich ein.
»Was hat er denn getan?« wollte Mrs. Locard wissen.
Ich wandte mich zu ihr um und lächelte. »Das werden Sie gleich hören. Dr. Sheldrick stellt die Chorschule als eines der Themen dar, über die das Domkapitel am heftigsten zerstritten war. Burgoyne hatte von Anfang an nie einen Zweifel daran gelassen, daß er die bedeutende Rolle, die die Musik bei den Gottesdiensten in der Kathedrale spielte, zutiefst mißbilligte.
Denn seinen strengen, calvinistischen Prinzipien zufolge war Musik ein sinnliches Vergnügen, das, unter dem Vorwand, den Geist zu erheben, nur allzuleicht dazu dienen konnte, unanständige, fleischliche Gedanken zu fördern. Er ließ sich deshalb keine Gelegenheit entgehen, die Einkünfte der Chorschule zugunsten der Stiftung einzubehalten, und da der Kantor, der für die Musik verantwortliche Domherr, ein enger Freund von Freeth war, kann man sich vorstellen, wie sich das auf die Beziehungen zwischen den beiden Männern ausgewirkt hat.
Freeth’ Feindschaft gegen den Eindringling nahm zu, als es immer wahrscheinlicher schien, daß Burgoyne ihn im Kampf um die Nachfolge des Dekans schlagen würde. Nicht nur, daß der politische Wind in seine Richtung wehte, er war auch noch ein Mitglied der mächtigen Familie Burgoyne, einer Familie, die
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