Die schwarze Kathedrale
sein.«
Ihr Mann lächelte. »Bedenke, daß Dr. Sheldrick ein beachtliches Privatvermögen besitzt, meine Liebe. Was uns als sehr viel Geld erscheint, ist für ihn ein Pappenstiel.« Er wandte sich an mich. »Er ist mit einem der großen Herzogshäuser verwandt.«
»Und tut alles, damit wir es auch nur ja nie vergessen«, bemerkte seine Frau ohne jede Boshaftigkeit.
Ich fing Mrs. Locards Blick auf, und wir beide unterdrückten ein Lächeln über diese Mischung aus Taktlosigkeit und Naivität.
»Weiß man, wann genau der Einbruch passiert ist?« fragte ich.
»Dr. Sheldrick hat dem Polizeibeamten mitgeteilt, daß er den Sekretär mehrere Tage lang nicht beachtet habe und daß er während dieses ganzen Zeitraums jederzeit aufgebrochen worden sein könnte«, antwortete Dr. Sisterson. »Seine Haushälterin versicherte jedoch, daß sie die Bibliothek zu einem früheren Zeitpunkt an diesem Abend genau überprüft habe und alles normal gewesen sei.«
»Besteht ein Verdacht gegen einen der Dienstboten, oder nimmt man an, daß während des Empfangs jemand in das Haus eingedrungen ist?«
»Dr. Sheldrick ist sich vollkommen sicher, daß es keiner von den Bediensteten gewesen sein kann. Sie sind alle schon seit Jahren bei ihm. Und wie der Sergeant meinte, scheint es fast unmöglich, daß ein Fremder unbemerkt ins Haus gelangt sein könnte, während alles voller Gäste und geschäftiger Dienstboten war.«
Ich lachte. »Na, dann bleiben nur noch die Gäste.« Dr. Sisterson warf Mrs. Locard einen Blick zu, und ich sagte schnell: »Das war natürlich nur ein Scherz. Ich nehme an, daß alle Gäste Freunde und Kollegen des Kanzlers waren.«
»Natürlich«, bestätigte Mrs. Locard. »Alle Gäste waren Domherren und Bedienstete der Kathedrale mit ihren Gattinnen.«
»Dann«, meinte ich, »ist es selbstverständlich unvorstellbar, daß einer von ihnen so etwas getan haben könnte.«
»So ist es«, stimmte Dr. Sisterson bedachtsam zu. »Es ist absolut undenkbar, daß einer von ihnen wegen eines Satzes von Miniaturen ein solches Risiko eingegangen sein könnte.«
»Demnach muß es also ein Fremder gewesen sein«, schloß Mrs. Locard. »Obwohl es kaum zu glauben ist, daß der Eindringling unbemerkt bleiben konnte.«
»Es ist wirklich rätselhaft«, überlegte der Domkustos. »Der Sergeant versammelte uns alle im Salon und fragte, ob jemand etwas Verdächtiges bemerkt habe. Natürlich hatte niemand etwas gesehen oder gehört.«
»Mr. Appleton wurde sehr ärgerlich, nicht wahr, Frederick?« warf Mrs. Sisterson ein, ohne den Blick von ihrem Kind zu wenden.
»Der Direktor der Chorschule«, erklärte mir ihr Mann. »Er hat sich ein bißchen aufgeregt und den Sergeanten gefragt, ob er womöglich einen von uns beschuldigen wolle. Er hat die Frage nicht direkt verneint. Und dann hat Mr. Slattery darauf hingewiesen, daß es doch ganz offensichtlich sei, daß keiner von uns etwas so Umfangreiches wie ein Paket mit Miniaturen bei sich trüge.«
»Dieser Mr. Slattery ist wirklich ein seltsamer Kauz«, murmelte Mrs. Sisterson und lächelte weiter ihren Sohn an. »Er hat sogar angeboten, sich vom Sergeanten durchsuchen zu lassen.«
Ihr Mann nickte. »Und er hatte natürlich recht. Es war ganz offensichtlich, daß niemand etwas so Großes am Leib verborgen hatte.«
»Welch eine ungewöhnliche Geschichte«, sagte ich. »Nicht so ungewöhnlich wie die Geschichte des Camerarius Burgoyne«, meinte Dr. Sisterson lachend. »Ich bin sehr gespannt darauf, Dr. Sheldricks Bericht zu hören.«
»Ich fürchte, daß er für die Damen nicht besonders interessant ist«, widersprach ich.
»Aber im Gegenteil«, versicherte Mrs. Locard. »Ich bin außerordentlich neugierig darauf. Und zudem ist Weihnachten genau die richtige Zeit, um am Feuer zu sitzen und Geschichten zu erzählen.«
Mrs. Sisterson stimmte ohne besonderen Eifer zu. Die beiden älteren Kinder wurden von einem jungen Dienstmädchen abgeholt und zu Bett gebracht, die beiden Jüngsten waren in den Armen ihrer Mutter beziehungsweise Mrs. Locards eingeschlafen. Also machte ich mich daran, den Inhalt des Kapitels, das ich im Wirtshaus gelesen hatte, wiederzugeben.
Ich hielt Dr. Sheldricks Manuskript auf den Knien, so daß ich jederzeit mit seiner Hilfe mein Gedächtnis auffrischen konnte, und begann: »Dies ist die Geschichte, wie die Feindschaft zwischen einem Domherrn adeliger Abstammung und einem Mann bescheidener Herkunft schließlich zur Vernichtung beider Männer führte. Wenn man Dr.
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