Die schwarze Kathedrale
Sheldrick Glauben schenken darf, wurde der Domherr und Camerarius Burgoyne ermordet, weil er die Absicht hatte, ein ungeklärtes Verbrechen von großer Schwere aufzudecken. Seine letzte Stunde schlug während des großen Sturms, an den man sich noch heute erinnert, weil in jener Nacht der Glockenturm über dem Haupttor zum Domplatz einstürzte; wie durch ein Wunder kam dabei jedoch niemand zu Schaden.«
»Das ist wahr, wenn ich Sie einen Augenblick unterbrechen darf«, warf Dr. Sisterson ein. »Aber der Sturm brachte auch noch einen Teil eines anderen Gebäudes am oberen Domplatz zum Einsturz, und dabei gab es unglücklicherweise einen Todesfall. Hat Dr. Sheldrick das erwähnt?«
»Nein, davon schreibt er nichts.«
»Ich bitte um Entschuldigung. Bitte fahren Sie fort.«
»William Burgoyne ist eine der großen Gestalten in der Geschichte der Kathedrale. Im Alter von dreiunddreißig Jahren wurde er Domherr und Camerarius, und obwohl er vermutlich wegen seiner Leistungen als Gelehrter und wegen des Einflusses seiner Familie schon in so jungen Jahren eine Pfründe erhielt, waren es gewiß seine Intelligenz und Willenskraft, die ihn während der folgenden zehn Jahre zum mächtigsten Mann des Domkapitels machten. Er war ein brillanter Kopf, dessen Fähigkeiten sich nicht nur in seiner Arbeit als Gelehrter niederschlugen – er hatte in Cambridge Griechisch, Hebräisch und Syrisch unterrichtet –, sondern auch in seinen praktischen und politischen Aktivitäten. Er war aber auch stolz, ehrgeizig und eigensinnig und hatte einen ausgeprägten Sinn für die Ehrerbietung, die seiner Familie wie auch ihm selbst zustand. Deshalb wurde er nach kurzer Zeit von vielen Mitgliedern der kleinen Gemeinschaft um die Kathedrale abgelehnt, ja gehaßt, die er entweder mit seiner scharfen Zunge oder durch die Rücksichtslosigkeit verletzt hatte, mit der er seine Pflichten erfüllte. Aber auch seine ärgsten Feinde konnten ihm keine ehrenrührigen Handlungen vorwerfen – er war zu stolz, sagten sie, um sich zu so etwas zu erniedrigen.
Burgoyne war eine sehr auffallende Erscheinung, und bald wurde er zu einer wohlbekannten Gestalt, wenn er über den Domplatz schritt und alle einschüchterte, die im Dienst der Kirche standen, vom einfachsten Torhüter bis hin zum Bischof höchstpersönlich. Er war groß und schlank, hatte eine schmale Nase und stechende graue Augen in einem langen hageren Gesicht. Er trug stets strenge schwarze Kleidung und einen hohen Hut, und man sah ihn niemals ohne seine Amtskette als Schatzmeister um den Hals. Er war unverheiratet und widmete fast seine gesamte Zeit seinen Pflichten, seinen Studien und dem Verfassen von Predigten.«
»Das klingt wie Kanzler Sheldrick«, warf Mrs. Sisterson ein, ohne die Augen von ihrem schlafenden Sohn zu wenden. Ich sah von meinem Manuskript auf und beobachtete, wie ihr Mann und Mrs. Locard amüsierte Blicke wechselten.
»In persönlichen Dingen galt er als ein Mann von äußerster Korrektheit, dessen Name niemals mit einem Skandal um Frauen in Verbindung gebracht wurde, obwohl vom Augenblick seiner Ankunft an viele junge Damen in der Stadt darauf aus waren, ihn sich zu angeln. Und er wäre auch ein lohnender Fang gewesen, denn zusätzlich zu dem Einkommen aus seiner Pfründe und seinem Gehalt als Domherr hatte er eine beachtliche Erbschaft von seiner Familie zu erwarten. Außerdem konnte man bei seinem Ehrgeiz und seinen Beziehungen damit rechnen, daß er es mindestens zum Bischof bringen würde. Der Camerarius hatte keine Freunde in der Stadt, hielt sich dem Gesellschaftsleben um die Kathedrale fern und stand der Unmäßigkeit, die damals unter den Domherren üblich war, so ablehnend gegenüber, daß dadurch ein Schatten über das Zusammenleben des Domkapitels geworfen wurde. Diese strenge und disziplinierte Lebensführung setzte er bis wenige Monate vor seinem frühen Tod fort.
Burgoynes Amt als Schatzmeister, sein Verstand und seine Bereitschaft, jede Schlacht zu schlagen, machten ihn zum führenden Kämpfer des Domkapitels in den zahlreichen Auseinandersetzungen mit der Stadtverwaltung. Natürlich war die Stiftung zur damaligen Zeit sehr viel reicher und mächtiger als heute. Sie hatte viele Besitztümer innerhalb der Stadt, und aus diesem Grund gab es ständig Streit mit dem Bürgermeister und der Stadtverwaltung.
Aber obwohl das Domkapitel gegen die Stadt zusammenhielt, war es in sich alles andere als einig. Dr. Sheldrick meint, daß es unter den fünfzehn Domherren, die
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