Die schwarze Kathedrale
verdiente.«
»Ich finde das sehr unfair von Dr. Sheldrick«, unterbrach mich Dr. Sisterson. »Gambrill war der beste Steinmetz der Stadt, um nicht zu sagen, einer der besten in der ganzen Grafschaft, dessen Arbeiten von Kunsthistorikern bis zum heutigen Tag sehr bewundert werden. Er liebte dieses Bauwerk, an dem er sein Leben lang gearbeitet hatte, und es muß ihm ein großer Schmerz gewesen sein, daß das Domkapitel ihm nicht die nötigen Mittel zur Verfügung stellte, um seinen Verfall zu verhindern. Ich weiß genau, wie er sich gefühlt haben muß, denn auch heute knausern meine Kollegen im Domkapitel mit jedem Pfennig, der in die Kathedrale gesteckt werden soll.«
Ich hatte ihn noch nie so verärgert gesehen. »Sie haben sicher recht«, meinte ich. »Aber Dr. Sheldrick schildert, daß das Domkapitel in den Jahren seit seiner Ernennung eine ganze Reihe von Auseinandersetzungen mit Gambrill hatte. In seiner Jugend hatte es einen ernsten Zwischenfall gegeben, woraufhin die finstersten Verdächtigungen gegen ihn erhoben wurden. Dieser Zwischenfall ist in sich eine interessante Geschichte. Gambrill hatte nämlich im Alter von vierzehn Jahren als Lehrling bei dem damaligen Steinmetzen der Kathedrale begonnen und es durch harte Arbeit und Talent weit gebracht. Sehr bald beherrschte niemand sein Handwerk besser als er. Er hatte aber nicht nur herausragende handwerkliche Fähigkeiten, sondern bewies auch guten Sinn fürs Geschäft, was ihm schließlich den Neid des stellvertretenden Steinmetzen eintrug, zumal Gambrill auch die Hand der Tochter seines Meisters versprochen worden war, die dessen Erbin war. Der Stellvertreter fürchtete nun, daß aus diesem Grund Gambrill und nicht er der nächste Steinmetz der Kathedrale werden würde. Bei Arbeiten auf dem Dach der Kathedrale gab es dann einen Unfall, und der Stellvertreter, Robert Limbrick, kam ums Leben. Gambrill überlebte den Unfall, aber er verlor sein rechtes Auge und hinkte seitdem. Limbricks Witwe erhob Anklage gegen Gambrill beim Kanzleigericht und behauptete, er habe ihren Mann getötet. Offenbar wurde der Zwist jedoch beigelegt, denn Gambrill nahm später den Sohn des Toten als Lehrling in seine Dienste. Zu der Zeit, zu der die Geschichte spielt, die ich gerade erzählen will, lag all das schon viele Jahre zurück, und Gambrill, dessen Mutter eine Waschfrau gewesen und dessen Vater unbekannt war, hatte es durch harte Arbeit, Können und Ehrlichkeit in der Stadt zu Wohlstand gebracht. Er hatte das schöne Haus seines Schwiegervaters in der High Street geerbt, dessen hübscher Garten an den Domplatz angrenzte, hatte es elegant ausgestattet und lebte darin mit seiner Frau und seinen fünf Kindern.
Er war ein großer, gutaussehender Mann und sehr beliebt, weil er freimütig und großzügig war und seine Meinung ohne Winkelzüge aussprach. Außerdem legte er große Hilfsbereitschaft gegenüber seinen Nachbarn an den Tag, wenn sie in Not waren; allerdings geriet er auch leicht in Zorn, und es wurde ihm nachgesagt, daß er unversöhnlich sei, wenn ihn einmal jemand gekränkt hatte. In der Stadt ging das Gerücht, daß er sein Haus auf Drängen seiner Frau, die gierig und bestechlich und stets darauf erpicht war, ihren Nachbarn ihre Überlegenheit zu demonstrieren, unvernünftig extravagant ausgestattet habe und deshalb in Schulden geraten sei. Falls das der Wahrheit entsprach, war die Aussicht auf einen großen Auftrag an der Kathedrale also um so wichtiger für ihn. Dr. Sheldrick behauptet, daß er Burgoynes Vorstellungen begeistert aufnahm und daß die beiden Männer über den Kopf des Domkustos hinweg damit begannen, Pläne zu zeichnen und die Kosten zu schätzen.
Trotz der Unterschiede in ihrer sozialen Stellung und religiösen Neigungen verstanden Burgoyne und Gambrill sich anfangs sehr gut. Abgesehen von der Kathedrale hatten die beiden Männer noch eine andere Leidenschaft gemein, wenngleich Gambrill das zunächst gar nicht wußte. Er liebte Musik und war ein begabter Viola-Spieler, und Burgoyne war, trotz seiner Überzeugung, daß Musik eine verderbliche Quelle weltlicher Freuden sei, heimlich ebenfalls ein Musikfreund. In seinen frühen Jahren in Cambridge hatte er sich diesem Vergnügen ohne Hemmungen überlassen. Später jedoch hatte er sich gezwungen, darauf zu verzichten und seinen Geist dem Gebet zuzuwenden, wann immer ihn die Versuchung überfiel. Als er zur Kathedrale kam, war es ihm in den ersten Jahren gelungen, sich vom Chor und der Schule der
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