Die schwarze Kathedrale
dem Calvinismus zuneigte, die beträchtliche Besitzungen um die Stadt herum ihr eigen nannte und deren Oberhaupt, der Earl of Thurchester, der Onkel des Camerarius war. Der Earl hatte sowohl im Parlament als auch bei Hofe enormen Einfluß. Der Hauptsitz der Burgoynes, Thurchester Castle, lag nur wenige Meilen von hier entfernt, und sie verfügten über enormen Grundbesitz in dieser Grafschaft. Dr. Sheldrick befaßt sich sehr ausführlich mit ihrer Geschichte, die mir an dieser Stelle aber nicht relevant erscheint. Er erwähnt ferner, daß die Familie heute fast vollständig verschwunden und ihr Titel erloschen ist. Aber weiter: Mitglieder der Familie Burgoyne waren seit Jahrhunderten in der Kathedrale begraben worden – zahlreiche schöne Grabsteine sind erhalten. Wie tief muß Freeth diesen Mann verabscheut haben, der all das zerstörte, woran er glaubte, und der ihm die einzige Chance raubte, zu Macht und Reichtum zu gelangen. Er besaß kein Vermögen, hatte aber eine Frau und viele Kinder und befand sich deshalb ständig in Geldnöten. Daher hatte er den angenehmen Einkünften, die er als Dekan erhalten hätte, mit Ungeduld entgegengesehen.
All diese Dinge kamen plötzlich ans Tageslicht, als ein wütender Streit über den miserablen Bauzustand der Kathedrale ausbrach. Nur der Chor wurde noch für Gottesdienste genutzt, weil der Haupttrakt des Gebäudes schon seit der Enteignung des Kirchenbesitzes unter Heinrich VIII. versiegelt und nicht mehr benutzt worden war. Diese Maßnahme hatte man ergriffen, weil am Turm Anzeichen von Instabilität erkennbar geworden waren und die Stiftung das nötige Geld für die Reparatur nicht aufbringen konnte. Die Schließung des größeren Teils des Bauwerks hatte leicht durchgeführt werden können, weil der Chor durch einen Lettner vom Hauptschiff getrennt war.«
»Aber die Kathedrale hat doch gar keinen Lettner«, widersprach Mrs. Locard.
»Nein, sie hat keinen, und den Grund dafür werden Sie auch gleich erfahren. Der Lettner hatte nur eine Tür in der Mitte, und die war zugemauert worden. Der einzige Zugang zum Hauptschiff der Kathedrale war somit die Tür am hinteren Ende. Diese war stets verschlossen, und es gab nur einen einzigen Schlüssel – ein riesiges Ding, mindestens dreißig Zentimeter lang.«
»Ich bekomme ihn täglich zu sehen«, warf Dr. Sisterson ein. »Er ist noch immer in Gebrauch. Der erste Küster hat ihn unter seiner Obhut.«
»So war das auch zu Burgoynes Zeit«, sagte ich. »Damals war der Küster ein sehr alter Mann namens Claggett. Burgoyne pflegte sich den Schlüssel bei ihm zu holen und nachts in das Gebäude zu gehen, denn seit seiner Ankunft machte er sich große Sorgen wegen der Vernachlässigung und des Verfalls der Kathedrale. Er sah darin ein Spiegelbild des Zustands seiner eigenen Familie, denn die Kathedrale war ja fast so etwas wie ihre Privatkapelle, aber gleichzeitig auch eine Bedrohung seines Status als künftiger Dekan. Er erkannte ganz klar, was seine Kollegen im Domkapitel nicht sahen oder nicht sehen wollten: nämlich daß der Turm, wenn er, was sehr wahrscheinlich war, einstürzen würde, das ganze Bauwerk irreparabel zerstören würde. Allein der Gedanke, Dekan einer halben Kathedrale zu werden, war schon eine sehr klägliche Aussicht, doch der Gedanke, Dekan einer zerstörten Kathedrale zu werden, hatte keinerlei Anziehungskraft. Mehrere Jahre lang fand Burgoyne im Domkapitel keine Unterstützung für sein Projekt, den Turm zu restaurieren. Die Domherren wollten den enormen Betrag, der dafür benötigt werden würde, nicht bewilligen, weil sie ihn aus ihrer eigenen Tasche hätten bezahlen müssen. Burgoyne hatte deshalb heftige Auseinandersetzungen mit dem Domkustos, der auf Freeth’ Seite stand und sich weigerte zuzugeben, daß die Kathedrale in Gefahr sei, ganz und gar einzustürzen.
Bei seinen vielen nächtlichen Besuchen in dem gewaltigen, bröckelnden Haupt- und Querschiff hatte Burgoyne gesehen, wie nah das Gebäude der vollständigen Zerstörung war. Der Fußboden unterhalb des Vierungsturms war mit Gesteinsbrocken übersät, denn Holz- und Ziegelstücke aus dem Turm waren seit Jahrzehnten beständig durch die Dachsparren gefallen und hatten Löcher in das gemauerte Gewölbe geschlagen. Burgoyne wurde häufig vom Steinmetz der Kathedrale begleitet, einem Mann namens John Gambrill. Die beiden waren sich vollkommen einig, wie wichtig es war, den Turm zu reparieren, zumal Gambrill sein Brot durch diese Tätigkeit
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