Die schwarze Kathedrale
Gelassenheit auf sich zukommen sahen –, sondern höchstwahrscheinlich auch einige der Häuser am Domplatz. Angesichts dieser Gefahr für ihr eigenes Leben und das ihrer Familien erklärten sich die Domherren nun endlich bereit, das fehlende Geld aus ihrem eigenen Einkommen zur Verfügung zu stellen.
Burgoyne und Gambrill hatten ihren Willen durchgesetzt, und Dr. Sheldrick schreibt, daß Gambrill seinen Triumph über den Domkustos voll auskostete und keine Gelegenheit ausließ, den Mann zu hintergehen, zu betrügen und vor den Arbeitern zu demütigen. Das hatte zur Folge, daß der Domherr, der niemals ein Mann von robuster Gesundheit gewesen war, erkrankte und von seinem Amt zurücktreten mußte.«
»Mein Herz fühlt mit diesem armen Tropf«, rief Sisterson lächelnd aus.
»Armer Dr. Sisterson«, sagte Mrs. Locard mit einem Lächeln. »Sie werden sich auf die morgige Sitzung des Domkapitels nicht gerade freuen.«
»Nein, wahrhaftig nicht. Ich werde dem Domkapitel mitteilen müssen, daß die Gottesdienste in der Kathedrale auf unbestimmte Zeit ernstlich beeinträchtigt sein werden.«
Er gab einen komischen Seufzer von sich, der in ein breites Lächeln überging, und bat mich, dann mit der Geschichte fortzufahren.
»Burgoyne und Gambrill hatten nun also freie Hand, zu tun, was sie für nötig hielten. In den folgenden Monaten traten jedoch Differenzen zwischen ihnen auf. Burgoyne weigerte sich hartnäckig, Gambrill die Genehmigung zu erteilen, den Vierungsturm zu reparieren, und ordnete statt dessen an, daß das zur Verfügung stehende Geld für Arbeiten verwendet werden solle, die nach Meinung des Steinmetzen viel weniger wichtig waren, wie zum Beispiel, den Altartisch aus dem Chor in das Zentrum des Gebäudes zu verlegen.
Thomas Limbrick, Gambrills Vorarbeiter, verhinderte schließlich, daß die Unstimmigkeiten zwischen den beiden Männern eskalierten – den Anschein hatte es jedenfalls. Er war der Sohn des Mannes, der bei dem Unfall ums Leben gekommen war, bei dem auch Gambrill verletzt worden war. Viele Bewohner der Stadt fanden, daß es ein Zeichen von Gambrills Großmut sei, ihm Arbeit zu geben; so mancher vermutete jedoch andere Motive hinter seiner Handlungsweise. Limbrick war ein hart arbeitender, fähiger junger Mann, der sowohl das Vertrauen des Schatzmeisters als auch das des Steinmetzen genoß und der daher in der Lage war, die Schwierigkeiten zwischen ihnen auszugleichen.
Burgoyne hatte erreicht, was er sich wünschte: Die Kathedrale wurde restauriert und sollte auf eine Weise wiedereröffnet werden, die seine Position ungeheuer stärken würde. Und doch war er weit davon entfernt, glücklich zu sein; es war ganz offensichtlich, daß irgend etwas ihm große Sorgen bereitete. Obwohl er stets überaus penibel gewesen war, trat er nun gelegentlich unrasiert und ungepflegt auf. Er kam zu spät zu den Sitzungen des Domkapitels, vernachlässigte zunehmend seine Pflichten und war sogar während der Gottesdienste nicht bei der Sache. Ein- oder zweimal brach er mitten in einer Predigt ab, als habe er den Faden verloren. Er gewöhnte es sich an, bei Dunkelheit ruhelos in der Stadt herumzuwandern, und wurde mehrere Male von den Nachtwächtern aufgehalten – zu deren größter Verlegenheit –, bis sie lernten, ihn in der tiefen Dunkelheit an seinem hohen Wuchs, seinem großen Hut und seiner geistlichen Kleidung zu erkennen.«
»Außerdem brach er offenbar mit dem Grundsatz, nicht zu trinken«, warf Dr. Sisterson ein, »denn bei mehreren Gelegenheiten trat er ganz offensichtlich betrunken auf.«
»Wirklich? Davon schreibt Dr. Sheldrick nichts. Aber natürlich fragte sich jedermann in der Stadt, welche heimliche Leidenschaft den Domherrn wohl quälte …«
»Er war verliebt«, flüsterte Mrs. Sisterson.
Wir alle sahen sie überrascht an, und sie lächelte ihrem Mann zu, der errötete und die Augen niederschlug.
»Nun ja«, fuhr ich fort, »obwohl die Leute davon zu reden begannen, daß eine Frau im Spiel sein könnte, wurde er niemals in Gesellschaft einer Dame gesehen. Aber jetzt gibt Dr. Sheldrick erstmals die wahre Erklärung.«
»Tatsächlich?« rief Dr. Sisterson überrascht aus. Er warf seiner Frau einen Blick zu, doch deren Aufmerksamkeit schien ganz von dem schlafenden Kind in ihrem Schoß in Anspruch genommen zu sein.
»Die Wahrheit ist, daß Burgoyne durch eine geistige Krise ging, die dadurch hervorgerufen wurde, daß er ein verborgenes Verbrechen entdeckt hatte, das so finster und
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