Die schwarze Kathedrale
seine Kollegen vom Domkapitel ratlos zurück. In den folgenden Tagen war von nichts anderem die Rede. Viele Leute wurden verdächtigt, die verschiedensten Vergehen begangen zu haben, und die Stimmung in der Stadt wurde durch Gerüchte vergiftet. Es fiel auf, daß Gambrill schwieg, wenn das Gespräch auf die Predigt kam, und das machte ihn verdächtig, wenn auch nicht mehr als viele andere. Besonders Freeth ließ durch sein nervöses Gebaren erkennen, daß er glaubte, selbst der Mann zu sein, auf den Burgoyne angespielt hatte. Und wenn Dr. Sheldricks Vorwurf finanzieller Unkorrektheiten berechtigt ist, dann hatte er ja auch gute Gründe für diese Sorge.
Am folgenden Sonntag drängte sich ein großer Teil der Stadtbevölkerung in den Chor und bis auf den Domplatz hinaus und lauschte gespannt, als Burgoyne sich zu seiner Predigt erhob. Diesmal waren seine Worte präziser, wenn auch immer noch vage genug, um seinen Zuhörern Rätsel aufzugeben.
Burgoyne sagte: ›Wehe dem Mann, der im unermeßlichen Stolz seiner Unwissenheit glaubt, er könne seine Schande verbergen. Mag er auch in den Augen der Menschen erhöht sein und wähnen, seine Sünde sei verborgen, wenn er in der Höhe Fuß an Fuß mit seinem Feinde ringt und niedergeworfen wird, so wird seine Bosheit doch vor den Augen der Menschen offenbar werden. Ja, selbst in der Finsternis werden seine Sünden hinausposaunt werden. Die Wahrheit wird nicht verborgen bleiben.‹
In diesem Augenblick lenkte Gambrill die Aufmerksamkeit aller auf sich; er wurde blaß, und als Burgoyne ankündigte, daß er selbst am folgenden Tag des Herrn an eben diesem Ort den Sünder nennen werde, begann er zu zittern.
Alle Augen richteten sich auf Gambrill, der aussah, als habe er soeben dem Tod ins Antlitz geblickt. Er stand auf und drängte sich durch die Menge zur Tür. Viele von Burgoynes Zuhörern, die bei dem Gedanken gezittert hatten, er könnte sie selbst meinen, waren erleichtert wegen Gambrills Betragen. Doch Burgoyne sagte nichts gegen ihn.
Im Laufe der folgenden Woche wurde eine Vertiefung für die Gedenktafel in die Wand geschlagen, wo einst der Lettner gestanden hatte. Die Gedenktafel selbst traf am Dienstag aus London ein, und als Gambrill den Wagen rumpelnd und klappernd auf den Domplatz rollen sah, sagte er zu Limbrick, er sei entsetzt, sowohl über die Häßlichkeit als auch über das Gewicht der Tafel, und er fürchte schlimme Folgen, wenn sie in die Wand eingelassen würde.
Der Sonnabend brach als ungewöhnlich schwüler und drückender Tag an, mit tiefhängenden Wolken und kurzen, heftigen Regenschauern. Alte Männer schüttelten den Kopf und sagten einen schweren Sturm voraus, und manche von ihnen murmelten und grollten wegen des Zustands des Turmes. Am Ende des Arbeitstages hatte Gambrill – stets der umsichtige Handwerker – alles vorbereitet, auch wenn er verabscheute, was ihm aufgetragen worden war. Man hatte die schwere Steinplatte auf ein Gerüst unter dem Vierungsturm gehievt, und dort lag sie nun bereit, um am Montag zu ihrem endgültigen Platz an der Wand in etwa vier Meter Höhe herabgelassen zu werden. Gambrill gestattete den Männern, die Arbeit an diesem Tag wegen des bevorstehenden Sturmes frühzeitig zu beenden, denn als die Sonne unterging, kochten die Wolken um die Kathedrale wie ein Hexengebräu.
Wie er es oft tat, erschien Burgoyne gegen zehn Uhr vor Claggetts Haus, gerade als der Wind sich erhob. Der alte Mann war inzwischen schwer krank, und seine Frau und seine Töchter waren bei ihm, aber das junge Dienstmädchen brachte dem Domherrn den großen Schlüssel. Ein oder zwei Stunden später brach der Sturm mit voller Kraft über die Stadt herein. Hagelkörner so groß wie Amseleier fielen vom Himmel, Dachziegel wurden losgerissen und wirbelten wie Blätter durch die Luft, zerschmetterten Fenster und stürzten Kamine um. Mitten in all dem Lärm von schlagenden Türen und Fensterläden, von brechendem Glas und grollendem Donner verlor der alte Claggett das Bewußtsein, so daß kein Zweifel bestand, daß er sterben würde. Man schickte nach dem Arzt, und ein Dienstbote wurde auch zum Haus des Kantors gesandt, der ein besonderer Freund des alten Mannes gewesen war. In all der Aufregung dachte niemand daran, daß Burgoyne den Schlüssel nicht zurückgebracht hatte.
Als der Sturm gegen zwei Uhr morgens seinen Höhepunkt erreichte, vernahmen alle, die in den Häusern um den Domplatz herum schliefen – oder zu schlafen versuchten – ein
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