Die schwarze Schatulle
Hebräisch: »Das du wirst brauchen. Und du passt drauf auf.«
Ich erschrak. »Und wenn etwas dran passiert? Wenn ich es verliere oder wenn es kaputtgeht? Ich kann doch nie im Leben …«
»Geht nicht verloren«, sagte Hirsch. »You will guard it.«
»Du wirst drauf aufpassen«, übersetzte Joli. Sie wurde langsam zu einer richtigen Dolmetscherin und sagte selbst gar nichts. Nicht dass sie nicht nachdachte. Man sah ihr an, dass sie in Gedanken versunken war. Doch davon ließ sie kein Wort heraus. Vermutlich sah ich noch immer sehr erschrocken aus, denn Hirsch sagte noch etwas auf Englisch und Joli erklärte: »Es ist versichert, du musst dir keine Sorgen machen.«
»Frage ist nur«, sagte Hirsch. »Wer geht mit dir?«
Mir war klar, dass er nicht locker ließ. Ich musste ihm etwas über meinen Vater erzählen. Er war ein professioneller Detektiv und hatte im Ausland bei der Polizei gearbeitet, vielleicht wusste er schon alles, wenn er mich nur ansah?
»Ich geben dir noch paar Sachen«, sagte er. »Aber ich kann nicht dich allein im Dunkeln hinschicken.«
Ich versuchte zu sprechen, ehrlich, ich versuchte es. Ganz am Schluss kam etwas Heiseres heraus, wie die Stimme von jemand anderem: »Mein Vater kann nicht.«
Joli und Hirsch schwiegen und warteten darauf, dass ich weitersprach. Sie saß neben mir auf dem Sofa und schaute mich an und er saß auf dem Stuhl uns gegenüber und schaute mich ebenfalls an. Und wieder brachte ich kein Wort heraus. Langsam wurde ich auch wütend. Das kommt also dabei heraus, dachte ich, wenn man Mädchen zu Hause besucht alle möglichen Gespräche über alles.
Wäre meinem Vater nicht das Unglück passiert, als ich in der 5. Klasse war, hätte ich Jolis Großvater überhaupt nicht um Rat fragen müssen. Bis dahin waren wir nämlich sehr viel zusammen, mein Vater sprach über alles mit mir, spielte mit mir und fuhr mit mir und meiner Mutter in seinem Taxi zu meiner Schwester Carmela. Unterwegs hielten wir an vielen Orten an. Er hatte mir viel über das Land beigebracht, über die Geschichte, die Archäologie, denn er wusste viel, auch wenn er nur Taxifahrer und Touristenführer war. In Caesarea zeigte er mir das Aquädukt. Er lehrte mich schwimmen. Und bis heute kann ich, wenn ich schwimme, seine Hand unter meinem Bauch spüren, als würde er mich noch immer über den tiefsten Stellen festhalten.
Meine Mutter spricht über das, was passiert ist, nur mit meinen Geschwistern. Als das Unglück passierte, war ich fast elf, aber sogar einem zehnjährigen Jungen kann man schon was erzählen. Mir sagten sie nichts. Wegen der Stimmung im Haus traute ich mich auch nicht, etwas zu fragen. Außerdem hatte ich Angst, genau Bescheid zu wissen, und jedes Mal, wenn ich das Zimmer betrat, schwiegen meine Mutter und meine Schwester. Bis heute, wo ich schon fast vierzehn bin, hat mir niemand gesagt, was passiert ist. Ich hatte es mir nur aus allen möglichen Einzelheiten zurechtgelegt, die ich da und dort aufschnappte, nicht später, sondern noch in jener Nacht, als die Polizisten kamen. Sie klopften so laut an die Tür, dass sogar mein Bruder Sohar aufwachte. In einer Sekunde stand er auf den Beinen und im Flur hörten wir dann, dass es einen Unfall gegeben hatte und unser Vater leicht verletzt war.
Ich wollte mit meiner Mutter ins Krankenhaus gehen, aber sie ließ mich zu Hause und versprach, mich von dort anzurufen. Sogar Sohar nahm sie nicht mit. »Er ist wirklich nur leicht verletzt«, sagte sie, als habe jemand etwas anderes behauptet. Und dann versprach sie, dass er in ein, zwei Tagen wieder zu Hause wäre, aber ihre Stimme klang fremd.
In jener Nacht glaubte ich ihr kein Wort. Ich wunderte mich, dass mein Vater wirklich nach zwei Tagen nach Hause kam und nur ein bisschen mit dem rechten Bein hinkte. Er hatte auch ein paar Rippenbrüche, aber die würden von allein heilen, hatten die Ärzte gesagt, die Zeit würde das ihre tun. Und davor, in den beiden Tagen des Wartens, hatte niemand ein Wort zu mir gesagt. Als wäre ich ein kleines Kind, nur ohne die Aufmerksamkeit, die ein kleines Kind bekommt. Meine Schwester Carmela schleppte Rechtsanwalt Friedberg an, damit er meiner Mutter half, und ich verstand nicht, warum plötzlich ein Rechtsanwalt ins Haus kam statt eines Arztes.
Und ganz allein, ohne mit meinen Geschwistern zu sprechen, noch nicht einmal mit Sohar, verstand ich, dass mein Vater in jener Nacht, als er Touristen nach einer Tour durch Galiläa zu ihrem Hotel in Zefat brachte,
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