Die schwarzen Juwelen 05 - Finsternis
einem Kuss geweckt zu werden – und mit einer Tasse frisch gebrühtem Kaffee? Wie es wohl wäre, draußen zu stehen und mit einer Tasse in der Hand den Tag erwachen zu sehen?
Sebastian schüttelte den Kopf. Warum sich selbst Salz in die Wunde reiben, indem man über Dinge nachdachte, die nicht sein konnten? Er lebte im Sündenpfuhl, der aus ein paar überfüllten Wohnblocks und gepflasterten Straßen bestand – ein Ort, der höchstwahrscheinlich einst ein zwielichtiger Teil irgendeiner großen Stadt gewesen war, nichts weiter als ein dunkler Fleck in einer Landschaft des Tageslichts. Doch dann hatte eine Landschafferin die Welt verändert, indem sie diesen Straßenzug zu einer eigenen Landschaft
werden ließ, und dies hatte eine andere Lebensart auf den Straßen geweckt, hatte die Tavernen, die Spielhöllen und Bordelle in Orte festlicher Sinnlichkeit verwandelt.
Aber der Pfuhl war mehr als ein Ort, an dem man alle menschlichen Laster offen genoss, mehr als ein Ort, an dem Menschen, die nicht ins Tageslicht passten, und Dämonen wie Inkuben und Sukkuben leben konnten. Er war das Zentrum einer Gruppe dunkler Landschaften, die einige der Dämonenrassen Ephemeras als ihr Eigen beanspruchten. Er war ein Ort, an dem Dämonen einkaufen oder in einer Taverne etwas trinken konnten, ohne angefeindet oder vertrieben zu werden, weil sie nicht menschlich waren.
Und ebenso war der Pfuhl ein Ort, der in der dunkleren Seite des menschlichen Herzens wurzelte, ein Ort, an dem die Sonne niemals aufging.
Als er hierher kam, war er ein verbitterter Fünfzehnjähriger gewesen. Nachdem er es zwei Jahre zuvor geschafft hatte, der Kontrolle seines Vaters zu entkommen, war er zunächst untergetaucht und hatte ums nackte Überleben gekämpft. Die dunklen menschlichen Landschaften waren sogar für einen Jungen, dessen Dämonennatur das menschliche Blut, das vielleicht noch in seinen Adern floss, überschattete, zu hoffnungslos und Furcht einflößend, aber die Menschen in den Landschaften des Tageslichts wollten nicht, dass eine Kreatur wie er unter ihnen lebte. Sie hatten ihn aus einem Dorf nach dem anderen vertrieben, sobald sie herausfanden, dass er ein Inkubus war – und der Hunger nach den Gefühlen, die beim Sex entstanden, war etwas, das sich nicht lange unterdrücken oder verstecken ließ.
Und so hatte er sich den Pfuhl, als er ihn gefunden und die dunkle, nervöse, sinnliche Stimmung dieses Ortes gespürt hatte, mit ganzem Herzen zur Heimstatt erkoren. Endlich hatte er einen Platz gefunden, an dem es ihn nicht zum Außenseiter machte, ein Inkubus zu sein, an dem die nie endende Nacht zu dem passte, wer und was er war. Der Pfuhl war der eine Platz, an dem er dazugehören konnte.
Und er gehörte noch immer hierher. Der Pfuhl war sein
Zuhause. Aber jetzt, als Mann, der gerade dreißig geworden war...
Ich bin der Nacht so überdrüssig.
Eine plötzliche Sehnsucht nach irgendetwas durchfuhr ihn, erfüllte sein Herz mit Schmerzen und sein Innerstes mit einer Not und einem Verlangen von solcher Stärke, dass es ihn taumeln ließ. Er stützte sich auf die Anrichte und wartete darauf, dass das Gefühl vorbeiging. Es ging immer vorbei.
Aber die Sehnsucht war vorher noch nie so stark gewesen und hatte ihn nie so vollständig erfasst. Egal. Solche Gefühle kamen und gingen – und veränderten nichts.
Angewidert von sich selbst, weil er nicht mit dem zufrieden war, was er hatte, nahm er eine Tasse vom Holztisch – und ließ sie beinahe fallen, als jemand an die Tür seines kleinen Hauses klopfte. Er brachte nie jemanden mit nach Hause, lud nie jemanden ein. Die einzigen zwei Personen, die sein Bedürfnis nach Privatsphäre missachten durften, waren seine menschliche Cousine und ihr Bruder, Glorianna und Lee, und keiner von beiden würde so zögerlich irgendwo anklopfen.
Er würde das Klopfen einfach ignorieren, genau das würde er tun. Er würde es ignorieren, und wer auch immer – was auch immer – auf der anderen Seite der Tür stand, würde wieder gehen. Doch die Tür öffnete sich knarrend. Sebastian schlug das Herz bis zum Hals, als er die Tasse vorsichtig, um kein Geräusch zu machen, auf die Anrichte stellte. Genauso leise nahm er das größte Messer aus dem Messerblock, das er besaß. Er würde vielleicht nicht gewinnen, aber er würde nicht kampflos untergehen.
»Sebastian?«, rief eine Stimme. »Sebastian? Bist du da?«
Er kannte diese Stimme, zögerte aber immer noch. Dann fluchte er leise und ließ das Messer
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