Die schwarzen Raender der Glut
nackte Gestalt, die an Franziskas Wohnungstür lehnt. Hoch jault eine Stimme. Nein, falsch. Sie jault nicht. Sie singt. Es ist die Stimme von Vicky Leandros. Vogelfrei war mein Herz bis heute . Die Stimme kommt aus einem Recorder, der neben ihr auf dem Treppenvorsprung abgestellt ist. Scheppernd schießt das Ding, das die Blitze macht, in Achterkurven über den Steinboden. Dann kamst du .
Die nackte weiße Gestalt an ihrer Wohnungstür ist rot verschmiert. Und mit dir kam die Liebe .
Wer immer das gemacht hat, er kennt dich. Aber nicht gut genug. Franziska richtet sich auf. Wieder rattert der Spielzeugroboter auf sie zu und spuckt Blitze aus seiner Laserpistole. Mit einem gezielten Fußtritt trifft sie das Blechding und kickt es die Treppe hinunter. Es schlägt blechern auf den Stufen auf, bis es auf dem Treppenabsatz landet. Dort rutscht es
unter das Geländer und bleibt mit dem Nussknackergesicht hängen, noch immer nutzlos Blitze um sich schleudernd.
Franziska bückt sich und packt den Ghettoblaster, aus dem der Lärm kommt, und wirft ihn über das Geländer. Frag nicht nach . . . hallt es durch das leere dunkle Treppenhaus, bis unten ein splitternder Schlag die Stimme wegschnappen lässt und plötzlich wieder Stille einkehrt.
Franziska schiebt die rot verschmierte Schaufensterpuppe zur Seite und versucht tastend, den Schlüssel in das Sicherheitsschloss ihrer Wohnungstür zu stecken und aufzuschließen. Du bleibst ganz ruhig. Du zitterst nicht. Kein einziges bisschen. Endlich geht die Tür auf, Franziska tritt ein und schiebt die Tür hinter sich zu und lehnt sich dagegen. Von draußen dringt der Lichtschein der nächtlichen Stadt in ihre Wohnung. Das Telefon klingelt.
Franziska schüttelt den Kopf.
Der Apparat steht in der Diele, keine zwei Schritte von ihr entfernt. Er hört nicht auf zu klingeln.
»Ja?« Sie hofft, dass ihre Stimme gleichmütig klingt.
»Es freut mich, dass Sie gut nach Hause gekommen sind«, sagt eine kultivierte, helle, angenehme Stimme. »Dass keine Gespenster Ihren Heimweg gestört haben. Frag nicht nach vergangener Zeit singt Vicky Leandros, oder irre ich mich da?«
Franziska schweigt.
»Doch, doch«, sagt die Stimme, »das heißt schon so. Ein kluger Ratschlag, finden Sie nicht? Die Gespenster der Vergangenheit sollte man ruhen lassen. Es gibt Gespenster, die können auch noch ganz anders . . . Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Abend. Und grüßen Sie Ihren Herrn Patensohn.«
Mittwoch, 5. Juli
Die Stadt Aichach liegt an der Paar, etliche Meilen ostwärts von Augsburg und unfern der Wälder, in denen sich Ludwig Thomas Füchse gute Nacht sagen. Als es zu München noch eine königlich-bayerische Regierung gab, hatte sie eines Tages huldreich die Stadtväter von Aichach zu sich gerufen und ihnen gesagt, höchstderoselbst wolle sie ihnen etwas Gutes tun. Ob sie denn gerne eine Garnison hätten mit schmucken jungen Soldaten, oder vielleicht doch lieber ein Zuchthaus? Und die Stadtväter dachten an ihre Töchter im mannbaren Alter und sanken auf die Knie und baten submissest um ein Zuchthaus. . .
So ungefähr wird es sich abgespielt haben, stellt sich Berndorf vor, während er die beiden Tortürme betrachtet und das Rathaus dazwischen und die Spitalkirche in der Mitte der Giebelhäuser ihm gegenüber und den weiß-blauen bayerischen Himmel darüber. Am Abend zuvor hatte er zu Hause auf dem Anrufbeantworter die Nachricht des Rechtsanwalts Auffert vorgefunden, Sabine Eckholtz sei bereit, mit ihm zu reden, und er habe für den nächsten Tag einen Besuchstermin in der JVA Aichach vereinbart. Und so ist Berndorf am Morgen mit dem Intercity nach Augsburg gefahren und dort in den Zug umgestiegen, der ihn nach Aichach bringt. Es war ein Zug, der sehr oft hält, ein Glück, dass Berndorf Zeit hatte und Lektüre. Die Münchner Zeitung brachte ein Feature über den neuen Staatsminister Tobias Ruff und seine umstrittene Vergangenheit als studentischer Revolutionär, in Dortmund war beim
Start der Deutschland-Tournee einer kanadischen Band ein halbes Hundert halbwüchsiger Mädchen in Ohnmacht gefallen, und nach dem Anschlag auf eine Synagoge im Rheinland hat die Polizei neben anderen Tatverdächtigen auch zwei Funktionäre der Nationalen Aktion festgenommen, woraus die üblichen gut informierten Kreise den Schluss zogen, dass der Innenminister nun doch seinen Verbotsantrag beim Bundesverfassungsgericht werde einreichen müssen . . . Dann hielt der Zug wieder einmal, diesmal in Aichach Bf,
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