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Die schwarzen Raender der Glut

Die schwarzen Raender der Glut

Titel: Die schwarzen Raender der Glut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Ritzel
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Straßenverkäufer lockt das Publikum mit zwei Handbreit großen Spielzeugrobotern, die ratternd Räuber und Gendarm spielen, der Gendarm hat ein Nussknackergesicht und feuert Laserblitze aus seiner erhobenen Pistole. Franziska bleibt einen Augenblick stehen und sieht dem Nussknacker zu, aber dann tritt aus einer Gruppe von jungen Männern, die Flugblätter verteilen, einer auf sie zu und hält ihr eines hin. Eher unwillig wirft sie einen Blick darauf und entziffert eine Frakturschrift: Steh auf, Deutsches Volk . . .
    »Leider stehe ich grundsätzlich nur auf, wenn ich es will«, sagt Franziska und betrachtet den jungen Mann: aufgerollte Jeans, Schnürstiefel, kurz geschorene Haare. Auf den Arm, der das Flugblatt hält, ist die Aufschrift VolksZorn tätowiert und dazu irgendetwas, das nach Runen aussieht.
    »Es ist gegen den Schandantrag«, sagt der junge Mann. »Gegen den Schandantrag, die Nationale Aktion zu verbieten.«
    »Ich hoffe sehr«, antwortet Franziska, »dass dieser unappetitliche Verein so schnell wie möglich aus dem Verkehr gezogen wird. Guten Abend auch.« Sie wendet sich ab.
    »Rote Zecke«, sagt der Mann zu ihrem Rücken. »Kommunistenvotze.« Sie überquert die Planken und taucht ein in eine
dunkle Straße mit heruntergelassenen Rollgittern. Die Straße führt zum Haus der Rheinisch-Pfälzischen Assekuranz, und sie ist verlassen bis auf zwei oder drei Halbwüchsige, die sich in einer Einfahrt herumdrücken und vermutlich ihren nächsten Bruch ausbaldowern.
    Franziska geht am Teppichgeschäft mit den ewiggleichen Persern vorbei zum Eingang und schließt die Haustüre auf. Das Foyer ist dunkel, nur über dem Fahrstuhl funzelt eine Leuchte. Sie geht zum Fahrstuhl, steigt ein und drückt auf den obersten Knopf, und während der Lift sich schwerfällig vom Boden löst und nach oben in Bewegung setzt, betrachtet sie – zum wievielten Mal? – die Metallplakette mit den technischen Daten dieses Geräts, das erstmals im Jahre des Herrn 1957 zugelassen worden ist, Tragkraft vier Personen. Wie immer an solchen Abenden, wenn das Assekuranz-Haus leer und verlassen ist, weil außer ihr niemand dort wohnt, malt sie sich mit leisem Schauder aus, was sie tun wird, wenn der Lift einmal stecken bleiben sollte . . .
    Rüdiger Volz war das einmal passiert, und wie immer in solchen Fällen war der Monteur sonst wo oder in Frankenthal, und die Metteure hatten sich oben um den Schacht versammelt und mit einer Stange eine Luke im Dach der Fahrstuhlkabine geöffnet und an einer Schnur eine Flasche Bier zu Volz hinabgelassen, damit sich dieser an etwas festhalten konnte, bevor ihn die Klaustrophobie in die Krallen bekam.
    Aber hier, in diesem großen leeren Büroturm, wäre niemand, der ihr zu Hilfe kommen könnte. Nicht einmal telefonieren könnte sie, weil der Akku des Handys leer ist . . . Der Lift setzt sanft auf und hält, er ist im fünften Stock angekommen, Franziska öffnet die Tür und geht zur Treppe, die zu ihrer Dachwohnung führt. Sie freut sich auf ein Bad und ein Glas Wein und auf die CD der jungen polnischen Pianistin Magdalena Lisak. Sie kommt zum Treppenabsatz, und dann geht das Licht aus. Zu dumm, denkt Franziska, hat sie nicht auf den Lichtschalter gedrückt? Sie tastet nach dem Geländer und zieht sich – als sie es gefunden hat – vorsichtig daran
hoch. Allmählich gewöhnen sich ihre Augen an die Dunkelheit, gleich müsste sie oben sein. Es ist still im Haus. Noch nie ist ihr die Stille so aufgefallen.
    Der Handlauf des Geländers biegt nach links ab. Sie ist oben. Ein paar Schritte noch, und sie wird an ihrer Wohnungstür sein. Der Leuchtknopf für das Treppenlicht ist erloschen. Also doch Stromausfall. Plötzlich bleibt sie stehen. Irgendetwas liegt vor ihrer Tür. Irgendetwas, das hell durch die Dunkelheit schimmert.
    Unvermittelt setzt ein Geräusch ein. Rasselnd nähert es sich. Ehe sie reagieren kann, stößt etwas hart und metallisch gegen ihren Knöchel.
    Sie schreckt zurück und strauchelt. Mit beiden Händen greift sie rudernd nach einem Halt. Ihre linke Hand bekommt das Geländer zu fassen und kann sich daran festklammern.
    Jetzt ist sie halb gegen das Geländer gelehnt. Sie atmet tief durch. Zu ihren Füßen setzt das Rasseln wieder ein und schiebt sich suchend durch die Dunkelheit. Lärm heult auf. Franziska lässt das Geländer los und hält sich mit beiden Händen die Ohren zu. Bläulich weiße Blitze zucken über den Boden. Für Sekundenbruchteile beleuchten sie eine weiße,

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