Die schwarzen Raender der Glut
eingenistet, den Tamar nicht deuten kann. Für einen Moment hat sie das Gefühl, sie stehe jemand anderem gegenüber, einem ratlosen, überforderten jungen Mann.
»Entschuldigen Sie mich in der Konferenz. Erzählen Sie irgendwas. Dass ich dringend nach Heidelberg muss. Ist ja auch wahr. Und laden Sie an meiner Stelle die Kollegen ein. Sie sollen mich in absentia zum Teufel schicken.«
Er packt den Hebel-Band und einen Stapel voll geschriebener Notizblöcke in seine Tasche und wendet sich zum Gehen.
»Chef, das können Sie nicht machen«, protestiert Tamar. »Das ist ein Affront für die Kollegen. Auch für uns.«
Berndorf ist bereits an der Tür. Er wendet sich noch einmal zu Tamar. »Kein Affront. Es geht nicht anders.«
»Kann ich wenigstens erklären, dass Sie dienstlich in Heidelberg sind?«, will Tamar wissen.
»Es ist dienstlich, aber nicht nur.«
»Mehr wollen Sie mir nicht sagen?«
»Nein«, sagt Berndorf und sieht sie ruhig an. »Mehr will ich nicht sagen.« Er verlässt das Büro.
»Jetzt hab ich das Mineralwasser für die Katz hochgeschleppt«, sagt Kuttler. »Von den anderen trinkt das doch keiner.«
»Wer, bitte, hat diesen lausigen Kaffee verbrochen?«, fragt Elfriede Pirschka (Deutsch, Geschichte) und hält anklagend den Porzellanbecher hoch, den ihre langen knochigen Finger mit den rot lackierten Nägeln umklammert halten wie ein besonders glitschiges Opfer. Niemand antwortet.
»Warum bricht eigentlich in dieser Anstalt zum Schuljahresende regelmäßig der kollektive Irrsinn aus?«, fährt sie fort. »Der Kaffee wird immer lausiger, die Konversation gefriert ein, und in der Aula treiben sie ich weiß nicht was.«
Wieder antwortet niemand. Sie zuckt mit den mageren Achseln und sieht sich um. Ihr Blick fällt auf Hilffreich (Eberhard, ev. Religion). »Pfarrerchen, erklär mir das mal. An Pfingsten haben wir doch die Aussendung des Heiligen Geistes, oder hab ich das falsch verstanden? Gibt es auch so etwas wie die Aussendung des allgemeinen Dummtreibens? Also dass die Leute nicht in Zungen reden, sondern alle Internet-Aktien kaufen oder deutsche Schlager singen und Festansprachen üben?«
Hilffreich quält sich ein ratloses Lächeln ab. Birgit sieht von ihrem Arbeitsplan auf. »Den Kaffee habe ich gekocht, meine
Liebe, und wenn er ein wenig dünn geraten ist, so liegt das daran, weil nicht mehr Kaffee da war. Wenn mich nicht alles täuscht, wärest du an der Reihe gewesen, neuen zu besorgen.« Sie vertieft sich wieder in ihren Plan. Etwas fehlt noch. »Aber wenn solche Regeln nicht eingehalten werden«, fügt sie mit kätzchensanfter Stimme hinzu, »ist es kein Wunder, dass das allgemeine Klima hier gegen den Nullpunkt tendiert.«
Ich hätt’ sie noch sollen Elfriede nennen.
Die Tür des Lehrerzimmers geht auf und Hubert tritt ein. Wie immer bewegt er sich ein wenig zu beschwingt, als sei er im Begriffe, das Podium eines Konzertsaales sowie die Herzen des versammelten Publikums im Sturm zu nehmen. Am Fenstertisch steht Miriam Bachfeld (Englisch, Sport) auf und huscht zu ihrem Schrank.
»Bertie«, sagt Pirschka, »geh nicht so. Du brichst mir sonst noch einmal das Herz.«
Dann schenkt sie Birgit ein schmelzendes Lächeln, als könne sich beim Anblick von Hubert Höges Hintern doch niemand mehr über Kleinigkeiten wie einen nicht gekauften Kaffee echauffieren.
Hubert bleibt stehen. »Pirschka«, sagt Hubert, »du hast doch nachher die 12b?«
Nicht schon wieder, denkt Birgit. »Hab ich, Bertieschatz.«
»Ich muss dir Bettina entführen. Die Übergänge bei ihrem Auftritt klappen noch nicht.«
»Schatz«, antwortet die Pirschka und klappert mit den Augenlidern, »warum willst du Bettina entführen? Entführ doch lieber mich. Meine Übergänge klappen immer. Schau – gestern hab ich mir deine Homepage über neue Platten angetan, ich war so etwas von hin und weg, eine Stelle hab ich mir aufgeschrieben, Moment« – sie setzt ihre Lesebrille auf und holt sich einen Zettel aus ihrem Notizbuch, »hier: flockig weggedreschter Garagenbeat, mit bizarren Loops und Samples overstylt . . . Ich hab auf der Stelle einen Orgasmus von gehabt.«
»Elfriede«, sagt Birgit warnend, diesmal mit ausgefahrenen Krallen in der Stimme.
Elfriede Pirschka zieht eine Grimasse, stellt den Becher ab und geht zu ihrem Platz. »Hol dir von meinen Schülern, wen du willst. Oder von meinen Schülerinnen.« Ein anzügliches Grinsen huscht über ihren Mund. »In dieser Anstalt ist offenbar alles wichtig, nur
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