Die schwarzen Raender der Glut
Eigentlich geht das nicht, denn das letzte Mal hat sie schon laut gejammert, dass ihr ganzes Sparbuch aufgebraucht sei, »wenn Butzi das mitkriegt!«
Doch es scheint die Sonne, er sieht keine Kurzgeschorenen und keinen Stuttgarter BMW, wo ist das Problem? Die nächsten Tage ist er bei der Suevo-Danubia bestens untergebracht, und wenn der Vortrag über das deutsche Schriftgut im Elsass gut ankommt, zeichnet sich etwas ab, das ausbaufähig ist.
Sehr ausbaufähig sogar, geht ihm plötzlich durch den Kopf. Dabei wissen wir noch gar nicht, was sich in Old Smileys hochgeheimen Dokumenten finden lassen wird. Ich sollte Muttchen doch anrufen, denkt er und schaut auf die Uhr. Es ist Samstag, Butzi wird beim Frühschoppen sein, vermutlich im Engel , falls sie ihn dort nicht wegen akuter Unausstehlichkeit hinausgeworfen haben.
Grassl steht auf und geht wieder zu der einen Telefonzelle, die nicht demoliert ist. Wie immer gibt es ihm einen Stich, wenn er die Nördlinger Vorwahl wählen muss. Zum Glück ist Muttchen am Apparat und nicht etwa Butzi.
»Ja Muttchen, es geht mir gut, sehr gut sogar«, sagt er, »ich hab dir zwei Pakete geschickt, vielleicht bekommst du sie heute schon . . . in den Paketen sind wichtige Papiere für meine
Promotion drin, aber jetzt hab ich kurzfristig einen Vortrag in Tübingen übernommen, und da brauch ich die Papiere . . .« Und er diktiert ihr die Adresse: Dr. Florian Grassl, c/o Suevo-Danubia, Tübingen, Österberg . . .
»Oh«, schluchzt es glücklich durchs Telefon, »du hast mir ja gar nichts davon erzählt . . .«
»Mit Absicht, Muttchen, mit Absicht«, sagt er eilig, »das muss vorerst noch niemand wissen. Und vor allem muss es Butzi nicht wissen. Die Leute sind so hämisch. Du weißt, wie sie zu mir waren. Niemand muss das in Nördlingen wissen. Nur für die Adresse darfst du es verwenden.« Er überlegt kurz. »Da musst du es sogar. Weißt du, der Doktortitel ist Bestandteil des Namens.«
Das ist es, denkt er dann. Ich muss mir Visitenkarten machen lassen.
Am Abhang ist es kühl und schattig, wie es sich gehört für einen Ort des Todes. Die Kriminalkommissarin Tamar Wegenast steigt den schmalen Weg hinab, hinter ihr geht Kuttler, die Hand an einem Stahlseil, dessen Halterung provisorisch in den Kalkstein geschlagen ist.
»Warum müssen sich die Leute zum Runterfallen auch so rutschige Wege aussuchen«, will Kuttler wissen. Aber Tamar antwortet nicht.
Dann sind sie unten, ein groß gewachsener, hagerer alter Mann begrüßt die beiden Polizisten mit kräftigem Händedruck: »Seifert, Jonas«, sagt er, »Ortsvorsteher.« Neben ihm äugt ein gelbschwarzer Boxerhund zu Tamar hoch und entschließt sich, kurz und dienstlich mit seinem Stummelschwanz zu wedeln. Etwas abseits steht ein uniformierter Polizist und telefoniert hinter dem Gerichtsmediziner her, der offenbar den Weg nicht gefunden hat.
»Kommissar Berndorf hat frei?«, will der Ortsvorsteher wissen, und Tamar zieht die Augenbrauen hoch. Dann fällt ihr ein, dass Seifert der Prophet Jonas sein muss. Berndorf hat ihr von ihm erzählt. In jenen altvorderen Zeiten, als Berndorf
jung war und man ihn nach Stuttgart versetzt hatte, war der Prophet einer seiner Kollegen gewesen, und den Namen bekam er, weil er auf dem Wochenmarkt predigte, wenn es in der Mordkommission gerade nichts zu tun gab.
»Ihr alter Kollege ist leider im Ruhestand«, antwortet sie. War das zu vertraulich?
Egal. »Seit zwei Tagen. Am Donnerstag hat er seine Entlassungsurkunde bekommen.« Hat er nicht. Englin hat sie. Mir wollte er sie nicht geben.
»So bald schon?«, wundert sich Seifert. Er lässt sich nicht anmerken, ob es ihn gefreut hat, dass sie weiß, wer er ist. Tamar murmelt höflich, ihr sei das auch zu früh erschienen, und wendet sich dem zu, was einige Meter weiter auf dem Waldboden liegt und ganz einfach nach jemandem aussieht, der den Felsen heruntergefallen ist.
»Der Tote heißt Gerolf Zundt«, sagt der Prophet Jonas, »wenn ich es recht weiß, ist er Jahrgang 1932, ihm oder vielmehr seiner Frau gehört ein früherer Gutshof, er betreibt dort eine Art politischer Akademie . . .« Prüfend blickt er von Tamar zu Kuttler und zurück. »Er ist, oder war, Mitglied des Kreistags, Staatspartei.«
Kuttler schaut ihn bedenklich an, als ob er sagen will, dass sogar die Mandatsträger der Staatspartei den Fels herunterfallen könnten, ohne dass es deswegen etwas anderes sei als ein hundsordinärer Unfall.
»Ich hab Sie angerufen«, sagt Seifert,
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