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Die schwarzen Wasser von San Marco

Die schwarzen Wasser von San Marco

Titel: Die schwarzen Wasser von San Marco Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dübell
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mehrstimmiger Choral. Er sah auf und grinste.
    »Wir brauchen Nachschub«, sagte er und deutete auf die Kiste. Ein Rascheln war zu hören, und ein neugieriges gelb geflecktes Köpfchen spähte über den Rand und machte Anstalten, hinauszuspringen. Moro fing das Küken rasch mit beiden Händen und platzierte es wieder im Inneren der Kiste.
    Ich setzte mich an einen Tisch, ohne etwas zu sagen. Moro studierte mich einen Augenblick lang, dann nahm er die Kiste und trug sie in die Küche hinaus. Kurze Zeit später kam er wieder zurück, stellte einen gefüllten Becher Wein vor mich hin und zog sich wortlos zurück. Ich hörte das Piepsen aus der Küche, wo er die Küken vermutlich aus der Kiste in den kleinen Verschlag trieb, der unter einer Bank an der Rückwand des Gebäudes angebracht sein würde. In meiner Heimat hatten diese Verschläge ein kleines Schlupfloch nach draußen in den Innenhof, sodass das Federvieh sich seinen Weg suchen konnte, wie es wollte. Es war anzunehmen, dass es sich hier ähnlich verhielt. Abgesehen davon war es mir egal. Ich hörte ganz andere Stimmen als die der Küken.
    Eine Erinnerung war plötzlich in mir zum Leben erwacht, eine Erinnerung an eine Szene, die ich scheinbar völlig vergessen hatte; und während sie schlagartig in voller Gänze wieder erstand und jede kleine Nuance ins Gedächtnis zurückkehrte, kamen die Gefühle, die damit verbunden waren, ganz allmählich. Am Ende hatten sie die gleiche Intensität wie damals, sodass ich den Becher anhob und einen großen Schluck hinunterstürzte.

8
    Drei Monate nach der Geburt meiner ältesten Tochter Sabina besuchte meine Frau Maria eine befreundete Familie. Die Frau lag in den Geburtswehen, und Maria wollte ihr auf jeden Fall beistehen, gesegnet mit der Überzeugung, dass die Erfahrung ihres eigenen Kindsbetts sie zu einer besseren Geburtshelferin machte als das zweifellos halbe Dutzend Hebammen, das unsere Freunde bestellt hatten. Sie nahm ihre Zofe mit, und mit beiden verschwand das einzige Wissen über den Umgang mit Sabina, das in unserem Haushalt vorhanden war. Wir beschäftigten eine Amme, aber sie war eine mittelältliche Frau mit den Brüsten einer Milchkuh und einem Intelligenzniveau, das mit dem der Kuh zu vergleichen eine Beleidigung für das Tier gewesen wäre. Sie säugte Sabina, wann immer es sein musste, und verschlief ansonsten die meiste Zeit des Tages in einer Ecke der Stube oder hielt sich so lange auf dem Abtritt im hinteren Teil des kleinen Grundstücks auf, dass ich beim ersten Mal nachgesehen hatte, ob sie nicht etwa hineingefallen sei. Es war ihr nichts zugestoßen – sie saß inmitten der Düfte und starrte mit leerem Blick vor sich hin, während ihre geringen geistigen Kräfte sich vermutlich konzentriert sammelten, um den Gliedmaßen die Befehle zum Aufstehen in der richtigen Reihenfolge zu geben. Wir hätten sie wieder nach Hause geschickt, wenn sie uns nicht empfohlen worden wäre; ich hatte mir die Kinder, die sie zuvor gestillt hatte, genau angesehen und an keinem von ihnen irgendwelche Zeichen geistigen Schwachsinns bemerkt, sodass ich mich, wenn auch nur halb beruhigt, auf die gute Frau einließ. Vielleicht war doch nichts an dem Glauben, dass die Kinder dem Menschen nachgeraten würden, dessen Milch sie tranken.
    Ich selbst hatte die Geburt und das nachfolgende Kindbett mit vagem Bangen um Maria und ebenso vagem Stolz über meine neue Vaterrolle erlebt und die Monate danach nicht viele Gedanken an das Kind verschwendet. Bischof Peter, in dessen Bischofssitz Augsburg wir lebten und ich arbeitete, hatte stets eine Menge Aufgaben zu bewältigen, und er hielt mich auf Trab mit Ermittlungen über Wirtshausschlägereien, Diebstähle und Landfrevel, die auf dem Besitz der Kurie stattgefunden hatten. Sabina war für mich wie eine seltsam lebende Puppe, die uns mehrmals in der Nacht weckte (die Amme war zudem schwerhörig und erwachte von Sabinas Hungergeschrei erst, wenn Maria sie wachrüttelte – und das, obwohl sie direkt neben Sabinas Wiege in der Stube schlief) und die mich jedes Mal mit ihrer Zartheit, Leichtheit und Lebendigkeit überraschte, wenn Maria sie mir in die Arme legte und ich keine Ausrede fand, dem auszuweichen. An diesem Abend hatten Maria und ihre Zofe kurz vor der Ausgangssperre das Haus verlassen, die Amme befand sich seit längerem auf einer ihrer Expeditionen in die unbekannten Weiten der menschlichen Verdauung, und Sabina schrie aus Leibeskräften.
    Ich schüttelte die Wiege; ich

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