Die schwarzen Wasser von San Marco
Geschichte, was? Nachher kam ich mir beinahe so vor wie Abaelard. Nur dass es für ihn schlimmer endete.«
»Und das Kind?«
»Nie gesehen. Ich weiß nicht, ob’s ein Knabe oder ein Mädchen ist. Es müsste jetzt so alt sein wie die Mutter damals.«
Er zog den Weinschlauch zu sich heran, überlegte es sich dann anders und starrte stattdessen auf die Tischplatte. Seine großen beringten Hände lagen auf dem Tisch, rosig sauber, weil er die längste Zeit des Tages Handschuhe trug. Ich hatte oft gedacht, dass diese Hände eigentlich schmutzig sein müssten von der Erde, die er umstach, oder vom Ruß seiner Schmiede oder vom Pech, mit dem er die Balken eines Dachstuhls einrieb; und dass sie des Nachts um den warmen Leib einer Frau liegen müssten oder ein jauchzendes Kleinkind in die Höhe hoben, anstatt sich über dem leeren Glanz seiner Ringe zu schließen.
»Haben Sie niemals Geld geschickt oder versucht zu erfahren, ob die Mutter die Geburt überlebte?«
»Weshalb sollte ich?«, fragte er, und ich wusste, dass er log.
»Warum haben Sie mir das erzählt?«
»Weiß ich nicht.« Er knallte den Becher auf den Tisch. »Der Wein ist doch nicht so gut, wie ich dachte. Ich verabschiede mich.«
Er stapfte zur Tür hinaus, ohne mich oder Sabina oder gar die Amme noch eines Blickes zu würdigen. Ich fragte mich, ob er seine Vertrauensseligkeit bereits bereute und mich morgen zu sich bestellen würde, um mich ans andere Ende der Welt zu senden. Aber noch mehr beschäftigte mich die Frage, wieso er seinen Lebensweg so gegangen war, wie er es getan hatte. Denn dass er auch damals schon gewusst haben musste, dass er eigentlich die falsche Entscheidung traf, war mir klar.
Ich hatte vor diesem Gespräch und auch nachher genügend Männer getroffen, die glücklich waren, ledig und ohne Familie zu sein und ihre Gelüste in einem Hurenhaus oder mit einer Mätresse befriedigten, ohne irgendwelche Verbindlichkeiten einzugehen. Es waren gute und ehrliche Männer darunter, genauso wie Halunken und Feiglinge, und dass sie nicht der von der Kirche gegebenen Prämisse folgten, sich zu lieben und zu vermehren, hatte außer für einen übereifrigen Priester keine Bedeutung. Sie standen nicht wie die meisten unter dem Zwang, eine Familie zu gründen, und sie besaßen den Mut, nach vorn in ein Alter zu blicken, in dem sich niemand um sie kümmern würde. Sie waren glücklich damit, wie sie sich zu leben entschieden hatten. Der Bischof war es nicht.
Ich sah zu, wie die Amme Sabina in die Wiege bettete. Das Kind war eingeschlafen. Ich trat an die Wiege heran, nahm ein Unschlittlicht und leuchtete hinein. Sabina hatte die Augen geschlossen und den Mund halb geöffnet. Ein trübweißer Milchtropfen hing noch an ihrem Kinn, und ihre Lippen glänzten rot und nass vom Saugen. Unter den Binden um ihren Leib bewegten sich ihre Ärmchen in einem wohligen Traum. Sie schnarchte leise. Ihre Wimpern warfen einen dichten Schatten auf die runden Wangen.
Als das Bild verschwamm, merkte ich, dass mir Tränen in die Augen getreten waren. Ich fühlte eine plötzliche heiße, erstickende, umfassende Liebe zu diesem kleinen Bündel Mensch in der Wiege, und ich wusste, dass ich diese Liebe zu meinem ersten Kind immer verspüren würde. Dass sein Leben mit einer leidenschaftlichen Umarmung seinen Ursprung genommen hatte, schien mir auf einmal wie das größte Wunder der Welt.
Es war das größte Wunder der Welt.
Manfridus’ Wein schmeckte wie der Tropfen, den Bischof Peter damals mitgebracht hatte. Ich saß allein in der Schankstube seiner Herberge und kämpfte darum, dass mich die Erinnerung an die überwältigende Liebe zu meinem Kind wieder verließ.
Fiuzetta stand am Fuß der Treppe und musterte mich. Ich hatte keine Ahnung, wie lang sie dort schon stand. Sie gab sich einen Ruck und kam an meinen Tisch.
»Gianna ist wieder wach«, sagte sie. Ich nickte und wischte mir über die Augen. Fiuzetta betrachtete mich eindringlich, gab jedoch keinen Kommentar ab.
»Wie geht es ihr?«, fragte ich überflüssigerweise. Ich wusste genau, wie es ihr ging.
»Der Schlaf hat gut getan. Aber sie ist sehr traurig.«
»Ich weiß.«
»Du musst mit ihr reden. Es gibt viel zu sagen und zu klären.«
»Ich weiß.«
»Geh hinauf.«
Ich erhob mich und spürte, wie mich die Beklommenheit an meinen Platz fesseln wollte.
»Fiuzetta …«, begann ich.
»Nicht zu mir. Gianna musst du alles sagen.«
»Alles«, murmelte ich und stapfte davon. »Ich habe Angst, auch nur
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