Die schwarzen Wasser von San Marco
Herumliegen.« Sie gönnte mir einen Augenaufschlag. »Du hast auch nichts getan, um mir die Zeit hier zu verkürzen.«
»Jana«, rief ich halb entrüstet, »du warst krank. Du hast die meiste Zeit geschlafen.«
»Nun bin ich wach.«
Ich beugte mich vor, um sie zu küssen. Die Tür sprang auf, und Julia kam herein. Sie räusperte sich. »Es gibt Fisch und eingelegtes Gemüse«, meldete sie. »Aber nur, wenn Sie zuvor die Buchweizensuppe essen, sagt Monna Clara.«
Jana ächzte und sah mich an wie eine leidende Märtyrerin. »Dann werde ich wohl meine Toilette machen, damit ich nach unten gehen kann.«
Ich stand auf und küsste sie zum Abschied auf die Stirn. Julia machte sich bereits an einer von Janas neuen Reisetruhen zu schaffen. Unsere alten Besitztümer waren dem Aufstand in Florenz zum Opfer gefallen, aber Lorenzo de’ Medici hatte es sich nicht nehmen lassen, uns den Verlust zu ersetzen. Das Ergebnis war, dass wir alle – Julia eingeschlossen – schöner und kostspieliger gekleidet waren als je zuvor. Beim Hinausgehen wurde mir bewusst, dass auch mein zweiter Versuch, Jana eine ehrliche Aussage zu ihrem Gesundheitszustand zu entlocken, von ihr erfolgreich durchkreuzt worden war.
Auf halbem Weg kam mir Clara Manfridus entgegen. Sie führte eine ältere, füllige Matrone in schlichten Gewändern und eine junge, blassgesichtige Frau mit einer kugeligen Kopfbedeckung die Stufen hinauf. Die beiden Frauen senkten den Blick, als ich mich an ihnen vorbeischob. Clara Manfridus nickte mir kurz zu und setzte den Weg mit ihren Begleiterinnen fort. Eine von ihnen hinterließ den schweren Duft eines Blumenparfüms, der in der muffigen Luft des engen Treppenhauses hängen blieb. Es bedurfte keiner Erklärung, um zu begreifen, dass die drei zu Jana unterwegs waren. Clara Manfridus hatte die Sache in die Hand genommen und den Arzt gegen eine Kräuterkundige ausgetauscht. Aus unerfindlichem Grund fühlte ich mich plötzlich als Außenseiter in einer Sache, die nur die Frauen etwas anzugehen schien, und zu meiner Sorge gesellte sich ein eifersüchtiger, kleinlicher Ärger.
Zweiter Tag
1
Am nächsten Morgen führte uns der dreizehnjährige Marco Manfridus zum Campo San Polo, um mit uns den Auftritt einer Schauspieltruppe zu besuchen. Er war gestern in die Schankstube geplatzt, während wir aßen, und hatte seinen Vater atemlos um die Erlaubnis gebeten, mit seinen Freunden die Aufführung sehen zu dürfen. Manfridus hatte vehement abgelehnt, und das Gesicht des jungen Burschen war so lang geworden, dass Jana sich einmischte und anbot, dass wir ebenfalls das Stück ansehen und auf Marco Acht geben würden. Es handelte sich laut Marcos Aussage um die Lebensgeschichte des heiligen Markus, und da sei es nur zu verständlich, dass der junge Mann sich für das Stück interessiere. Ich wusste nicht, ob Michael Manfridus’ Weigerung der Befürchtung entsprang, sein Sohn würde Unfug anstellen, oder ob er vom gestrigen Fund des Leichnams noch zu sehr erschüttert war; jedenfalls hatte er nach Janas Angebot kein überzeugendes Argument mehr parat und gab nach. Außerdem zeigte uns sein unterdrücktes Grinsen, als Marco Manfridus freudestrahlend in die Küche hinausschoss, dass er es seinem Sohn in Wahrheit von Herzen gönnte.
Der Campo San Polo lag westlich von der Rialto-Brücke, erreichbar durch eine gepflasterte Hauptgasse ähnlich der, die uns gestern zum Markusplatz geführt hatte – ein Pfad, der sich nach jeder Ecke zu unterschiedlicher Weite öffnete oder verengte und ebenso viele Abbiegungen und seitlichen Versatz hatte wie Pflastersteine auf seinem Boden. Ich versuchte vergeblich, mir die vielen Kreuzungen zu merken, durch die uns Marco führte; am Ende blieb nur die Erinnerung an die Kirche mit der großen Uhr und dem weit ausgreifenden Portikus gleich nach der Brücke, in dessen Schatten die Geldwechsler und Bankiers saßen, sowie eine kleine Brücke mit der Bezeichnung ponte delle tette , deren Namen Marco unbefangen mit der Häufung von Freudenhäusern in ihrer unmittelbaren Umgebung erklärte. Der campo war gepflastert, ein weiter, unregelmäßig geformter Platz, der sich überraschend öffnete, nachdem man halb gebückt unter finsteren Arkaden hindurchgekrochen war, die sich sottoporteghe nannten, weit verbreitete Ergänzungen des Gassennetzes darstellten und manchmal weniger als schulterhoch direkt durch die Häuser hindurchzuführen schienen. Der Campo San Polo stand an Größe dem Markusplatz nur wenig
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