Die schwarzen Wasser von San Marco
blieben schließlich an mir hängen. »Kommen Sie nun zu zweit, um mich zu beleidigen?« Ihre Stimme klang bitter. Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber der Polizist kam mir zuvor.
»Schicken Sie die Mädchen raus«, knurrte er.
Raras Augen verengten sich, und ihr Blick tanzte wieder zwischen Calendar und mir hin und her. Sie straffte sich und trat einige Schritte auf uns zu.
»Ich lasse mir in meinem Haus nichts befehlen.«
»Schicken Sie sie raus, wenn Sie nicht noch mehr Zeugen haben wollen, die gegen Sie aussagen.«
»Ihren tedesco -Freund kenne ich. Wer sind Sie?«
Calendar sah sie unverwandt an. Er hatte sich auf seine übliche Taktik verlegt, auf Fragen mit einem starren Blick zu antworten. Ihre Wangenmuskeln spielten, aber sie war zu stolz, um die Frage nochmals zu wiederholen. Schließlich drehte sie sich zu den Mädchen um, die den unerwartet scharfen Wortwechsel heimlich verfolgt hatten, und klatschte in die Hände. Sie rafften mit erleichterten Gesichtern ihre Stick- und Näharbeiten zusammen. Wie es schien, hatten die Kanäle der Stadt diesmal keinen ungewollten Freier zur Tür hereingespült. Sie rannten aus dem Saal; es war ratsam, sich nicht zu widersetzen, wenn das Schicksal sich ausnahmsweise einmal günstig zeigte.
»Also, was wünschen Sie?«
Calendar drehte sich zu mir um und sah mich auffordernd an. Raras Brauen zogen sich noch enger zusammen.
»Caterina«, sagte ich und versuchte so überheblich zu klingen wie Calendar, wenn er den Polizisten herauskehrte. »Führen Sie uns zu ihr.«
»Ist Ihnen das Klima hier zu heiß?«, spottete sie böse. »Haben Sie schon vergessen, was ich Ihnen gestern mitgeteilt habe?«
»Durchaus nicht. Ich habe sogar noch einige Informationen hinzugewonnen.«
»Ach ja?«
Ich ging langsam zu den Handarbeiten auf den Truhen hinüber und nahm einen der Stickrahmen auf. Die Arbeit war ordentlich ausgeführt; ich war überzeugt, dass die Mädchen alles, was Rara von ihnen verlangte, ordentlich lernten. Ich ließ den Rahmen fallen; er klapperte auf die Truhe und fiel von dort zu Boden. Das Bild darauf war das obere Drittel eines Kruzifix, das von naiven hellen Sonnenstrahlen erleuchtet wird. Ich fühlte Wut in mir emporsteigen, als ich daran dachte, dass die Besitzerin dieser Stickarbeit vermutlich bei jedem Stich zum Herrn flehte, sie aus diesem Haus herauszuholen oder sterben zu lassen. Wenn sie mit der Stickerei fertig war, wurde die Arbeit der Kirche von San Simeòn Propheta vermacht, und der Priester entzündete eine Kerze für Raras Heil.
»Manche Menschen überleben alles Leid, das ihnen zugefügt wird«, sagte ich. »Manche Mädchen vermitteln Sie tatsächlich in einen Haushalt, wenn sie ein Alter erreicht haben, das sie für Ihre Klientel uninteressant macht. Manche behalten nicht für alle Ewigkeit für sich, was sie bei Ihnen erdulden mussten.«
Rara senkte den Kopf und dachte nach; als sie ihn wieder hob, war ihr Gesicht dunkel vor Zorn.
»Und manche alternden Idioten«, zischte sie heiser, »überschätzen ihre Lage, bloß weil sie einen Helfer mitgenommen haben, den sie in der Trinkstube kennen gelernt haben.« Sie hob die Stimme. »Ursino!«
Calendar sah mich über den Raum hinweg fragend an.
»Vielleicht hätte ich Ihnen von Ursino erzählen sollen«, räumte ich ein.
Ursino folgte dem Ruf seiner Herrin und stapfte durch die Tür. Rara wies auf mich, und er fasste mich ins Auge, kaum dass er den Saal betreten hatte. Sie sagte etwas auf Venezianisch zu ihm, und sein Gesicht zog sich grinsend in die Breite. Er spreizte die Arme vom Körper ab und kam auf mich zu.
»Ma sei proprio tu Matteo?« , sagte Calendar gelassen. »Non mi sarei mai aspettato di trovarti qui.«
Ursino fuhr herum, als er seinen wirklichen Namen und vor allem den Klang der Stimme hörte. Er hatte Calendar, der durch den halben Saal von mir entfernt stand, nicht beachtet, als er durch die Tür gepoltert war. Seine Miene wandelte sich von siegessicherem Grinsen zu einem Ausdruck der Verblüffung. Seine Arme sanken herab, und er blieb wie gebannt am Platz stehen. Die Verblüffung in Raras Miene war nicht weniger groß. »Das ist Matteo der Bär. Ich habe ihm erklärt, dass ich nicht erwartet hätte, ihn hier zu finden«, übersetzte Calendar.
»Ich habe vergessen zu erwähnen, dass mein Helfer aus der Trinkstube Mitglied der Polizei des Zehnerrats ist«, erklärte ich.
Raras Mund verzerrte sich. Ursino sah zwischen ihr, Calendar und mir hin und her. In seine
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