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Die schwarzen Wasser von San Marco

Die schwarzen Wasser von San Marco

Titel: Die schwarzen Wasser von San Marco Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dübell
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Hoffnung, so zum Ponte dei Cavalli zu gelangen, und überquerte auch glücklich einen engen rio , doch dahinter öffnete sich nicht der Campo San Polo, obwohl ich der Gasse eine ganze Weile folgte. Ich hatte schon geargwöhnt, falsch abgebogen zu sein, denn die Gegend erinnerte mich an nichts, was ich heute Morgen auf dem Weg zum Schauspiel gesehen hatte. Ich schloss, dass ich zu früh nach rechts gegangen war, und kehrte um, damit ich mich auf dem kleinen campo neu orientieren konnte. Ich überquerte wieder den rio , hielt mich halb links und dann wieder links und blieb noch einige weitere Richtungsänderungen später vor einer mir völlig unbekannten kleinen Brücke frustriert stehen. Offensichtlich hatte ich mich ein wenig verirrt. Die Leute wimmelten ungerührt an mir vorbei oder stießen gegen mich, sodass ich mich schließlich an eine Hauswand drückte. Auf der gegenüberliegenden Seite der Gasse stellte ein Lastträger sein Joch auf den Boden und rieb sich die Schultern. Er sah zu mir herüber, und ich versuchte mich an Marcos Anweisungen zu erinnern und rief: »Calle Meloni? Ponte dei Cavalli?«
    Er nahm sein Joch wieder auf und deutete in die Richtung, aus der ich gekommen war. »Sempre dritto« , erwiderte er.
    Seinen Rat verschmähend, wartete ich höflich ab, bis der Lastträger verschwunden war, und ging danach über die Brücke. Seine Antwort hatte ohnehin nur bedeutet: Geh, wohin du willst! Außerdem wusste ich, dass ich dort, wo ich gewesen war, keinen Campo San Polo finden würde.
    Etwa eine Viertelstunde später war ich vollkommen verloren in einem Dickicht aus Gassen, in denen Bäckereien, Metzgereien, die Läden von Barbieren und Herbergen lagen, aus denen fröhlicher Lärm ertönte. Es herrschte eine verwirrende Geruchsmischung aus brackigem Meerwasser, verwestem Fisch, gebratenen Zwiebeln, süßem Backwerk und geronnenem Blut, und mein Magen erinnerte sich am einen Ende einer Gasse ungnädig daran, dass er seit dem Morgenmahl kaum etwas zu sich genommen hatte, während er am anderen Ende darüber erleichtert war. Dann fingen alle Glocken an zu läuten, als ich auf einen campo hinaustrat. Auch ohne dies hätte ich gewusst, dass es gegen Mittag ging: Die Hitze, die mich auf der freien Fläche empfing, war überwältigend. In den engen Gässchen war die Luft angenehm kühl, doch sobald man sie verließ, fiel die Sonne über einen her.
    Der Platz lag zur Abwechslung nicht bei einer Kirche; an seiner Nordecke befand sich der schlichte Stadtpalast eines noch nicht übermäßig reich gewordenen Patriziers, der wiederum an seiner nordöstlichen und nordwestlichen Flanke von zwei der engen Kanäle, die Marco Manfridus als rio bezeichnet hatte, eingefasst wurde. Auf der Ostseite des campo führte eine kleine Brücke mit vielen Stufen über einen der Kanäle. Auf den Stufen saßen drei nachlässig gekleidete Männer und unterhielten sich halblaut; ein vierter, jüngerer Mann, fast noch ein Knabe, hockte abseits an die Brüstung der Brücke gelehnt und starrte ins Leere. Ich blieb stehen und wischte mir den Schweiß von der Stirn. Die drei älteren Männer beäugten mich misstrauisch; ich nickte ihnen zu, und einer von ihnen grüßte zurück. Ich entschloss mich zu einem zweiten Versuch, einen Venezianer nach der richtigen Richtung zu fragen, und marschierte auf sie zu.
    In diesem Moment öffnete sich eine Seitentür des kleinen Palastes, und ein muskulös gebauter, mittelältlicher Mann trat heraus; sichtlich ein Dienstbote, der mit brummigem Gesicht in die Sonne blinzelte, sich in den Schritt griff, um zu sortieren, was dort hing, und dann mürrisch davonstapfte, seinen Botengang zu erledigen. Er kam nicht weit.

3
    Die drei Männer sprangen plötzlich auf und stürmten an mir vorbei. An ihren entschlossenen Bewegungen erkannte ich, was mir schon auf den ersten Blick hätte auffallen sollen: Sie waren keine drei Tagediebe, die sich zufällig auf der Brücke getroffen hatten. Der Dienstbote hörte ihre Schritte, drehte sich um und glotzte ihnen verblüfft entgegen. Dann sah er an ihnen vorbei, und die Farbe wich aus seinem Gesicht. Er warf sich herum und begann in die Richtung zu laufen, aus der ich gekommen war. Ich folgte seinem Blick. Der Jüngling, der an der Brüstung gelehnt hatte, war aufgesprungen und stand mit ausgestrecktem Arm auf der Brücke, den Mund aufgerissen, ohne dass ein Schrei zu hören gewesen wäre.
    Die drei Männer holten den Dienstboten ein, noch bevor er den Eingang der nächsten

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