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Die schwarzen Wasser von San Marco

Die schwarzen Wasser von San Marco

Titel: Die schwarzen Wasser von San Marco Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dübell
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vor Schimmel. Die Barmherzigkeit des Bäckers diente der Bereinigung seiner Lagerbestände. Ich zweifelte nicht daran, dass er der gutmeinenden Verwaltung des Arsenals frische Ware berechnen würde.
    Ich war nur ein paar Schritte gegangen, als ich das Geräusch bloßer, sich hastig nähernder Füße auf dem Steinboden hörte. Beunruhigt drehte ich mich um. Maladente blieb abrupt stehen, außer Reichweite meiner Hände und musterte mich. Er hatte den Blick eines streunenden Hundes, der Prügel erwartet und einen Knochen erhofft. Ich deutete auf das Gerangel. Er zuckte mit den Schultern und erklärte etwas auf Venezianisch. Ich konnte es nicht übersetzen, aber ich verstand auch so, dass einer wie er keine Chance hatte, hier etwas zu ergattern – oder das, was er erhaschte, zu behalten.
    »Das Geld wartet noch auf dich«, sagte ich.
    Er schlich vorsichtig näher und strich sich mit den Handflächen über das Hemd, als wollte er sie sauber wischen. Seine Gliedmaßen zuckten.
    »Il milite?« , fragte er. Ich sah ihn überrascht an. Darum hatte er Calendar in die Hölle gewünscht; er hatte an seinem Auftreten erkannt, dass er ein Polizist war. Ebenso hatte er erkannt, dass ich keiner war.
    »Fort«, sagte ich. »Weggeschickt.«
    Er wischte erneut über sein Hemd. Wir standen vielleicht fünf Schritte auseinander. Näher würde er nicht mehr an mich herankommen, nachdem ich ihn vorhin gepackt und festgehalten hatte. Er schlenkerte mit den Armen und tänzelte mit ungelenken nervösen Bewegungen auf und ab. Ich warf eine Münze zu ihm hinüber; er schnappte sie aus der Luft. Er kämpfte mit sich.
    »Er heißt Fratellino«, stieß er hervor.
    »Und wo steckt dein Freund Fratellino?« Ich warf ihm eine neue Münze zu und versuchte nicht darüber nachzudenken, dass keiner der Jungen, die ich bis jetzt kennen gelernt hatte, einen richtigen Namen besaß.
    »Helfen?«, fragte er. »Du? Helfen?«
    »Ja, Maladente, ich will deinem Freund helfen.«
    »Bene.« Er schien nachzudenken, wie er mich und Fratellino zusammenbringen könnte. Die Solidarität unter den Gassenkindern mochte größer sein als unter den erwachsenen Armen, aber ein hungriger Magen und die Aussicht auf etwas Geld lösten auch verschworene Zungen. Ich verdrängte den unangenehmen Gedanken, dass ich mich eigentlich nicht besser verhielt als die Kaufleute, die Geld auf die kleinen Kerle setzten, damit diese sich das Gesicht in Fetzen reißen ließen.
    Maladente hatte sich eine weitere Frage zurechtgelegt: »Wie?«
    Ich stutzte. »Wie meinst du das?«
    »Wie?« Maladente fuchtelte mit den Armen. »Mit Geld? Wegbringen?«
    Er hatte begriffen, worum es ging. Es interessierte ihn weniger, warum ich Fratellino helfen wollte; die wesentliche Frage war vielmehr, wie . Daran würde er mich messen. Maladente hatte Hunger, und ich bot ihm Geld, und dies hatte ihn dazu verleitet, mich nochmals anzusprechen und den Namen des zweiten Zeugen preiszugeben. Allerdings war er nicht bereit, seinen Freund einem ungewissen Schicksal auszuliefern. Ich starrte den kleinen Schmutzfink an und suchte nach der Antwort zu einer Frage, die ich mir selbst noch nicht gestellt hatte. Maladente machte ein langes Gesicht, als er meine Ratlosigkeit erkannte. Ganz leise stieg eine Erinnerung an meine eigenen Kinder in mir auf. Wie war es damals gewesen? In der Zeit vor tausend Jahren, bevor Marias Tod mich in den Abgrund der Trauer hatte fallen lassen und ich nichts dagegen tat, dass der Rest meiner Familie zerbrach? Wie hatte ich mich verhalten, wenn mein Sohn Daniel mit fragendem Gesicht vor mir gestanden hatte und ich keine Antwort wusste?
    – Das offene, arglose Gesicht eines Kindes, in das hinein eine Lüge zu erzählen eine der größten Sünden der Erwachsenen ist.
    »Ich weiß es nicht«, sagte ich.
    Maladente schüttelte den Kopf und wandte sich ab.
    »Aber wenn ich nicht mit ihm sprechen kann, wird man ihn umbringen«, rief ich hastig.
    »Si« , stieß Maladente hervor. Er schien, als wollte er noch hinzufügen: Und wenn du mit ihm sprichst, auch.
    Ich breitete die Arme aus. »Ich weiß nicht, wie ich ihm helfen kann, doch ich bin der Einzige, der es wenigstens versucht.«
    Maladente legte die Stirn in Falten und kämpfte einen inneren Kampf, der sich vor allem in hektischen Bewegungen seiner Arme und Beine zeigte. Schließlich seufzte er.
    »Schwester. Fratellinos Schwester, si ?«
    »Er hat eine Schwester.«
    » Ca’ di Rara . Schwester … Rara.«
    »Die Schwester heißt

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