Die schwarzen Wasser von San Marco
Burschen«, seufzte sie. »Sie müssen wie die Ratten leben, weil man ihnen die Möglichkeit verweigert, Menschen zu sein. Sie tun mir Leid.«
»Sie sprechen die Gedanken aus, die auch ich hege.«
»Jeder Mensch, der in der Gnade des Herrn ist, muss so denken. Warum wollen Sie mit dem Mädchen sprechen?«
Ich sah sie an und entschloss mich zu der zweiten Lüge unter ihrem Dach. Ich hatte Chaldenbergen angelogen, weil mir sein Auftreten zu gekünstelt erschienen war, als dass ich auch nur ein Fünkchen Vertrauen zu ihm gehabt hätte. Warum ich Rara nicht die Wahrheit sagte, wusste ich nicht genau. Womöglich war es mir peinlich, meine vagen Verdachtsmomente vor ihr darzulegen. Ich sah schnell zu den Mädchen in der Ecke hinüber; die jüngeren von ihnen zogen die Nadeln nervös und ungeschickt durch die Stickarbeiten und sahen kaum auf, die älteren betrachteten mich mit kalten, taxierenden Blicken, bevor sie die Augen niederschlugen. »Ihr Bruder ist in Schwierigkeiten. Er hat mich bestohlen und versteckt sich. Ich will ihm mitteilen lassen, dass ich keine Bestrafung wünsche. Ich betrachte den Diebstahl als eine Spende, die ich selbst hätte tun müssen, wenn mein Herz nicht verhärtet gewesen wäre. Vielmehr möchte ich ihn finden und ihm helfen.«
»Das ist sehr edel, sich wegen eines Gassenjungen solche Umstände zu machen.«
»Das Mädchen heißt Caterina.«
»Ich weiß, wen Sie meinen. Wie lautet der Name des Bruders?«
»Seine Kameraden nennen ihn Fratellino. Das ist zwar kein Name …«
»Die Kinder geben sich die Namen selbst: Mastello, Pellirossa, Testagrande, Maladente …« Rara sah mich nachdenklich an. Schließlich erhob sie sich. Die Mädchen blickten zu ihr auf, und sie machte eine Kopfbewegung. Schweigend marschierten sie zu einer Tür hinaus, ohne mich nochmals anzusehen. »Ich hole sie. Sprechen Sie Venezianisch?«
»Nein.«
»Ich werde übersetzen.«
»Vielen Dank. Ich habe Ihnen noch nicht gratuliert. Sie beherrschen meine Sprache sehr gut.«
»Die Kaufleute aus dem Fondaco dei Tedeschi spenden viel und reichlich.«
»Wie alt ist das Mädchen?«
»Wozu wollen Sie das wissen?«
»Ihr Bruder erschien mir so klein … so jung …«
»Caterina ist fünfzehn. Sie wird mich bald verlassen und ein Leben in Freiheit führen können.«
Rara verschwand durch dieselbe Tür wie die Mädchen. Ich hatte den Eindruck, dass sie zu einer Flucht von Zimmern führte, in denen die Kinder untergebracht waren. Zu meinem Erstaunen ließ sie mich allein in dem geräumigen Saal sitzen; keine Zofe, kein Dienstbote, niemand, der sich zu mir gesellte und verhinderte, dass ich etwas an mich nahm oder zerstörte. Andererseits war außer abgeschabten Truhen und einem stockfleckigen Teppich an der jenseitigen Stirnwand des Saales nichts vorhanden, was sich hätte davontragen lassen. Der Boden bestand aus glänzenden, durchgetretenen Holzbohlen, und die Fresken an der Decke waren so alt, dass die Hautfarben der Engel, Heiligen und Allegorien verblasst waren und ihnen das Aussehen Dahinsiechender verliehen. Wo die Mädchen gesessen hatten, waren ein paar Truhen zusammengeschoben. Auf einer war etwas liegen geblieben: ein Paar dunkler Männerhandschuhe. Sie waren aus feinem Stoff und sicher mehr ein Accessoire zu feiner Kleidung, als dass man sie wirklich getragen hätte. Ich tippte darauf, dass Chaldenbergen sie vergessen hatte, doch die dunkle Farbe passte eigentlich nicht zu seinem Geschmack. Ich legte sie wieder zurück.
Die Fenster des Saals führten auf den lang gezogenen Teil des campiello hinaus und waren, wenn ich mich recht an den Anblick von draußen erinnerte, die einzigen, deren Fensterläden nicht geschlossen waren. Ich wanderte zu den Fenstern hinüber und spähte hinaus. Einen Augenblick lang hatte ich idiotischerweise erwartet, Heinrich Chaldenbergen dort unten stehen zu sehen, aber der kleine, ausgepolsterte Mann war verschwunden. Ich wandte mich von den Fenstern ab und erkannte, dass ich es drinnen nicht weniger ungemütlich fand als draußen. Der ärmlich ausgestattete Saal machte mich unruhig, nicht zuletzt deshalb, weil ich das Gefühl hatte, irgendwo in einem anderen Zimmer säße jemand und lauschte auf jeden meiner Schritte. Ein leiser Schauer lief mir über den Rücken. Ich schalt mich im Stillen und zwang mich dazu, mich wieder zu setzen.
Das Erste, was mir an Fratellinos Schwester auffiel, war ihre Zartheit. Sie zeugte von schlechter Ernährung in Kleinkindertagen, und einmal mehr
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