Die schwarzen Wasser von San Marco
Schulter, und ich trat folgsam über die Schwelle. Er musterte mich kurz, dann schien er es für gefahrlos zu halten, meine Fesseln aufzuschnüren. Ich rieb mir die Handgelenke und dankte ihm; er zuckte mit den Schultern und machte Anstalten, die Tür zu schließen. Die Fackel nahm er mit. Ich sagte ihm meinen Namen vor und erinnerte ihn an Paolo Calendar. Er grunzte etwas und schlug die Tür zu.
Die Dunkelheit war vollkommen. Ich tastete mich bis zu einer der Wände, lehnte mich mit dem Rücken daran und ließ mich an ihr hinunterrutschen. Nun saß ich auf dem durch das Holz erstaunlich trockenen, warmen Boden, an die Wand in meinem Rücken gelehnt, lauschte dem Sägen meines Zellengenossen, der nicht einmal gezuckt hatte, und wartete darauf, dass mich ein Mann aus meinem Elend erlöste, mit dem ich bisher nur Streit gehabt hatte.
Ich war bislang erst einmal im Gefängnis gewesen – jenseits der Schwelle, meine ich. In Florenz hatte ich mich selbst den Behörden gestellt, weil ich es für die einzige Möglichkeit gehalten hatte, Jana zu retten. Die Stunden meines Aufenthalts waren im Wesentlichen von der Angst um meine Gefährtin bestimmt gewesen sowie von dem Gedanken, dass es vielleicht falsch gewesen war, meine Freiheit aufzugeben. Hier in Venedig, so dachte ich, hatte ich die Sache im Griff. Meine Verhaftung hatte mir vermutlich das Leben gerettet, mich zumindest aber vor einigen unangenehmen Augenblicken in der Gegenwart Fulvios und Barberros bewahrt. Ich konnte zufrieden mit mir sein.
Stattdessen sank die Dunkelheit auf mich herab, und mit ihr das gleiche Gefühl wie in Florenz: dass ich einen schwerwiegenden Fehler begangen hatte.
Nach einer Weile hörte der Betrunkene in meiner Zelle auf zu schnarchen. Er drehte sich geräuschvoll auf eine Seite und atmete danach so flach, dass er ebenso gut hätte tot sein können. Mit seinem Geschnarche war auch meine einzige Möglichkeit verschwunden, die Zeit zu messen: ersticktes Einatmen – eine Sekunde – Pause – eine weitere Sekunde – stöhnendes Ausatmen – eine weitere Sekunde. Zwanzig mal: eine Minute. Man konnte sich daran gewöhnen. Die Stille umgab mich wie die Dunkelheit, und wahrscheinlich dauerte es nicht einmal eine Stunde, bis ich das Gefühl hatte, bereits seit Tagen hier zu kauern. Mir fiel ein, dass Rara gesagt hatte, die Gefängnisse hießen im Volksmund pozzi – Brunnen. Sie hatte angenommen, es sei wegen der Feuchtigkeit. Die Zelle war hingegen nicht feucht, aber in ihr herrschte eine so vollkommene Stille, wie man sie sich am Grund eines Brunnens vorstellt; eines Brunnens, der so tief ist, dass das Licht von seiner Öffnung nicht mehr bis auf den Boden gelangt. An diese Stille konnte man sich nicht gewöhnen.
Ich wusste nicht, wie stark die anderen Zellen belegt waren, aber ich nahm nicht an, dass man mir gegenüber besonderes Zartgefühl hatte walten lassen. Man hatte mich einfach in die nächstbeste Gefängniszelle gelegt. Irgendwann bildete ich mir ein, ganz dumpf die Geräusche meiner Leidensgenossen zu hören. Etwas Rhythmisches hörte sich an wie ein verzweifeltes Schluchzen, das sich nicht stillen ließ; ein paar hohe Töne ließen mich womöglich Zeuge eines Albtraums werden. Die Schreie wurden schnell erstickt: Die Zellengenossen des Schläfers hatten ihm einen Fußtritt verpasst, damit er mit dem Lärm aufhörte. Die steinerne Bogendecke war wahrscheinlich um ein gutes Stück höher als die Holzverkleidung, und in dem dazwischen befindlichen Hohlraum raschelte es ab und zu: Ratten und Mäuse, auf ihren ganz eigenen Pfaden unterwegs zu ihren ganz eigenen Besorgungen.
Ich hielt meine Hände vor die Augen und versuchte sie zu erspähen, aber es war zu dunkel. Ich tastete mir mit den Fingern ins Gesicht, und es war ein seltsames Gefühl, als seien sowohl sie als auch mein Gesicht jeweils von einem anderen Menschen. Die Wände rückten in der Dunkelheit näher heran, bis ich überzeugt war, ich bräuchte nur die Beine auszustrecken, um die gegenüberliegende Zellenwand berühren zu können. Ich zog sie stattdessen näher an mich heran. Wenn es so war, wollte ich es nicht wissen.
Dann wurde mir klar, dass Calendar nicht kommen würde. Wenn man ihn überhaupt benachrichtigt hatte, würde er sich lediglich im Bett umdrehen und erleichtert feststellen, dass ich ihm nun wirklich nicht mehr in die Quere kommen konnte. Vielleicht waren Fulvios Leute noch vor der Wache bei ihm gewesen und hatten ihn alarmiert; nach allem, was
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