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Die schwarzen Wasser von San Marco

Die schwarzen Wasser von San Marco

Titel: Die schwarzen Wasser von San Marco Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dübell
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Sie nicht nur nicht wieder aus dem Kerker holen, ich werde sogar alle Anstrengungen unternehmen, Sie dorthin zu bringen. Ich lasse es nicht zu, dass irgendein Neugieriger, der einen Zusammenhang zu sehen meint, weil drei Knaben tot aus dem Wasser geborgen wurden, mich behindert oder meine Ermittlungen zu Fall bringt. Ich habe die außergewöhnliche Chance erhalten, mich zu rehabilitieren, und ich lasse sie mir nicht kaputtmachen.«
    Ich suchte nach einer Antwort, die Verständnis ausdrücken sollte und ihm zugleich klar machte, dass ich mich nicht von ihm einschüchtern ließ. Er wartete nicht darauf, sondern wandte sich ab und folgte dem Kerkerwächter. Notgedrungen lief ich hinterdrein.
    Wir hatten die Treppe, die hinauf zum Obergeschoss führte, fast erreicht, als Lärm von oben herunterdrang: das Gekeife und Weinen von Frauen, die heisere Stimme eines Mannes, der darauf antwortete, und dazwischen die barschen Stimmen der Wachen. Unser Führer blieb stehen und spähte überrascht hinauf, als der Lärm sich uns näherte.
    Es waren zwei Frauen und ein Mann. Eine der beiden Frauen wurde von der anderen gestützt, zwei Wachen stapften links und rechts von ihnen über die Stufen. Der Mann wurde ebenfalls von zwei Wachen begleitet, aber diese drehten ihm die Arme auf den Rücken und schleiften ihn mehr herab, als dass er ging. Der Mann sah übel aus. Aus einer Platzwunde über einer Braue lief ihm Blut über das Gesicht, seine Wangen waren zerkratzt und seine Lippen geschwollen. Er brüllte mit seiner rauen Stimme zurück, wann immer sich die eine der beiden Frauen umwandte und ihn über die Schulter hinweg beschimpfte. Wir traten beiseite. Calendar stellte eine leise Frage, und eine der Wachen, die die Frauen flankierten, antwortete mit einer schnell hervorgeratterten Tirade, deren Länge die Entstehung der Welt hätte beschreiben können.
    Mein Blick blieb an der Frau hängen, die von ihrer Leidensgenossin gestützt wurde. Sie war bleich, ihre Kopfbedeckung war verschwunden und ihr Haar zerzaust. Die verriebene Schminke und die verwischte Lippenfarbe ließen ihr Gesicht zur Fratze werden; ihre Tränen ließen die schwarze Farbe um ihre Augen über die Wangen laufen wie Schmutz. Ihr Kleid hatte ein gewagtes, jetzt zerrissenes Dekolleté, und es brauchte die roten Bänder nicht, die in jeden Saum eingenäht waren, damit ich erkannte, dass es sich um eine Dirne handelte. Ihre Freundin gehörte derselben Zunft an. Bis auf ihr erhitztes Gesicht, in dem die Schminke ebenfalls zerlaufen war, war sie unversehrt; dort prangte ein sich bereits verfärbendes blaues Auge. Sie hatte der anderen Prostituierten einen Arm um die Schulter gelegt und stützte sie mit der freien Hand unter der Achsel. Es schien, als sei das Mädchen mit den aufgelösten Haaren und dem zerrissenen Kleid entweder so schwach oder so verletzt, dass es kaum allein gehen konnte. Am Ende der Treppe stolperte die junge Frau und musste sich setzen. Das Mädchen mit dem blauen Auge ließ sich ebenfalls auf die Treppenstufe sinken und nahm sie in die Arme. Die Wachen, die den fluchenden Mann hinabführten, nutzten die Gelegenheit, ihrem Gefangenen in die Kniekehlen zu treten. Er schrie auf und sank nach vorn; wenn sie ihn nicht gehalten hätten, wäre er die Stufen hinuntergestürzt. Calendar sah ihnen ausdruckslos zu.
    Die Dirne mit dem zerrissenen Kleid schluchzte und presste eine Hand auf ihren Bauch. Die andere flüsterte ihr ins Ohr. Es schien, als seien weder Calendar und ich noch die Wachen für die beiden präsent. Ich war erstaunt, dass man sie nicht mit Schlägen weitertrieb; mit dem Mann sprangen die Wachen bedeutend grober um. Schließlich versuchte die junge Frau wieder aufzustehen. Ihre Freundin zog sie mühsam in die Höhe. Calendar bedachte einen der Wachmänner mit einem durchdringenden Blick, woraufhin dieser hastig seinen Spieß gegen die Wand lehnte und mithalf, das Mädchen auf die Beine zu zerren. Die Prozession wankte an uns vorüber. Aus der Nähe sah ich, dass auch die Gesichter der Wachmänner, die den blutig geschlagenen Mann abführten, zerkratzt und zerschunden waren.
    Calendar ließ sie passieren und setzte denn einen Fuß auf die erste Treppenstufe.
    »Was ist denn hier passiert?«, hörte ich mich fragen.
    Calendar drehte sich nicht um.
    »Eine junge Dirne wird schwanger. Die Schwangerschaft ist nicht ganz ohne Komplikationen. Die Frau kann nicht mehr arbeiten. Der Wirt, in dessen Haus sie tätig ist, befiehlt ihr, sich von einer

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