Die schwarzen Wasser von San Marco
färbte sich der Himmel von Osten bereits wieder hell. Im Westen blinkten noch ein paar Sterne, aber dort, wo in Kürze die Sonne aufgehen würde, hatte ein helles Türkis die dunkelblaue Nacht abgelöst; tief violette Wolkenbänder standen bewegungslos vor dem leuchtenden Hintergrund. Die ersten Strahlen der Sonne würden sie auflösen.
»Sie haben mir noch etwas verschwiegen«, sagte ich, als wir auf den Pflastersteinen des Innenhofs angelangt waren.
Er blieb stehen. »Und was wäre das?«
»Wen Sie damals in Verdacht hatten, der Schuldige hinter der versuchten Wahlmanipulation zu sein.«
Calendar machte eine unwillige Handbewegung und stapfte wieder los. Von der geschmeidigen Eleganz seiner sonstigen Bewegungen war nichts zu sehen; er trat auf, als wollte er jedes meiner Worte auf dem Steinboden zerreiben. Wir schritten durch den Hof des Dogenpalastes hinaus auf die Piazzetta. Drei Wachsoldaten standen bereit, mich nach Hause zu geleiten. Wir kannten uns bereits. Ich nickte dem Wachführer zu. Er erwiderte den Gruß und nahm vor Calendar Haltung an.
»Sie können während der nächtlichen Ausgangssperre nicht allein durch die Gassen laufen«, erklärte Calendar und teilte mir damit nichts Neues mit. Ich streckte ihm die Hand hin, aber er ignorierte sie.
»Kommen Sie mir bloß nicht noch mal in die Quere«, sagte er grob und marschierte davon.
Die Wachsoldaten warteten darauf, dass ich mich in Bewegung setzte. Ich zögerte. Ich brannte darauf, endlich zu Jana zurückzukehren, aber es gab noch etwas zu sagen.
»He, Calendar«, rief ich ihm über die Piazzetta hinweg zu. »Es war Falier, nicht wahr?«
Er marschierte einfach weiter, ohne sich auch nur umzudrehen. Seine langen Beine trugen ihn beim Campanile um die Ecke und außer Sicht. Ich hörte seine Schritte noch lange auf dem Pflaster knallen. Vielleicht war es auch bloß mein Herzschlag, der in meinen Ohren dröhnte.
Dritter Tag
1
Michael Manfridus saß in der Schankstube seiner Herberge, eine unbewegliche Gestalt hinter der Flamme einer Öllampe, die über sein Gesicht schien. Seine dichten Haare waren zerrauft, seine Wangen unrasiert. Das kleine Licht glättete das Alter aus seinem Gesicht und warf umso härtere Schatten auf die Sorgenfalten, die seine Stirn verfinsterten. Um ihn herum lagen unzählige Nussschalen. Er konnte seine Hände nicht still halten; er hatte einen gebogenen Kienspan an die Flamme gehalten, gewartet, bis die Spitze Feuer fing, und dann das Flämmchen ausgeblasen. Als ich eintrat, vergaß er, das gerade brennende Flämmchen zu löschen, und sah auf. Seine Augen weiteten sich. Ich bemerkte eine weitere dunkle, bewegungslose Gestalt im Hintergrund der finsteren Schankstube: Moro.
»Da sind Sie ja«, seufzte Manfridus. »Wir haben Sie schon überall gesucht.«
Ich blieb am Ende der drei flachen Stufen stehen, die von der Gasse auf das Niveau der Schankstube hinunterführten. Das Flämmchen an Manfridus’ Kienspan flackerte hell auf, und er wedelte rasch mit der Hand, bis es erlosch und eine dünne Rauchfahne in die Luft sandte. Er sah auf die Tischplatte und wieder zu mir und heftete seinen Blick schließlich auf den glimmenden roten Punkt am Ende des Kienspans.
»Ich bin in Ordnung«, sagte ich. »Man hatte mich verhaftet, aber es war ein Missverständnis …«
»Setzen Sie sich«, sagte Manfridus und deutete auf die Bank ihm gegenüber. Ich trat verwirrt auf den Tisch zu, an dem er saß. Moro bewegte sich und schlurfte nach vorn. Er trug einen Krug und einen Becher; ich sah erst jetzt, dass auch vor Manfridus ein Becher stand. Die feuchten Ringe auf der polierten Tischplatte um den Becher herum und die roten Tropfen sagten mir, dass Moro schon einige Male Wein nachgefüllt hatte. Ich sah in sein Gesicht. Seine Züge wirkten wie versteinert. Er stellte den Becher vor mir ab und machte sich daran, ihn voll zu gießen.
»Was ist denn los?«, hörte ich mich fragen. Meine Stimme klang plötzlich gequetscht.
Moro schenkte seinem Herrn nach und trat wieder zurück in den Schatten. Ich hatte noch nicht erlebt, dass er etwas getan hätte, ohne seinen Kommentar dazu abzugeben. Manfridus seufzte wieder und hob den Becher zum Mund. Ich sah, dass seine Hand zitterte.
»Setzen Sie sich doch bitte endlich«, sagte er.
Ich starrte auf ihn hinunter und dann zu Moro, dessen Augen im schwachen Widerschein der Öllampe funkelten. Seine schwarze Haut machte ihn beinahe unsichtbar in den Schatten der Schankstube. Nur seine Augen
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