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Die schwarzen Wasser von San Marco

Die schwarzen Wasser von San Marco

Titel: Die schwarzen Wasser von San Marco Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dübell
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hatte, kam gerade ein junger Mann mit einem Sack über der Schulter aus der Tür. Ich fragte ihn radebrechend, wessen Haus es sei, und er antwortete mit Stolz: der Palazzo Dandolo.
    Enrico hatte dem Haus seines Bruders einen Besuch abgestattet. Was seine Kleidung betraf, hätte er durchaus besser in diesen Palast gepasst als in seine eigene Behausung. Ich fragte mich, ob die Abneigung zwischen dem angesehenen und dem erfolglosen Bruder so stark war, dass sie beinahe die ganze Stadt zwischen ihre beiden Häuser gelegt hatten.
    Enrico bog in das Gewimmel und die hölzernen Marktbuden auf der Piazzetta ab. Da er in die Richtung ging, die ich auch zu nehmen hatte, beschloss ich, ihm zu folgen. Ich beschleunigte meine Schritte, aber schon, als ich mich selbst in das Gewühl stürzte, das zwischen den Buden der Bäcker, Fleischer und Fischverkäufer herrschte, hatte ich ihn aus den Augen verloren.
    Die Aquila lag immer noch an der Piazzetta vor Anker. Während ihr makabrer Mastschmuck nach wie vor vom Krähennest baumelte, war die Beute aus dem Kriegszug gegen die Piraten inzwischen weggeräumt. Die Hoffnungsfrohen, die mit gebeugten Köpfen über der Stelle hin- und herwanderten, an der man sie ausgestellt hatte, um in den Ritzen zwischen den Ziegeln die eine oder andere übersehene Perle oder Münze zu finden, würden sicherlich enttäuscht abziehen. Abgebaut war auch das Zelt, in dem der Kommandant gestern Audienz gehalten hatte. Heute und die kommenden Tage würde er bei verschiedenen Räten und Stadtsechstelvertretern und sicherlich auch einmal beim Dogen Mocenigo Hof halten, die Strapazen der Seereise und des Gefechts bei auserlesenen Speisen und Getränken und angeregten Plaudereien kurierend. Die Eingeladenen würden stets dieselben sein, die Fragen an ihn ebenfalls, und lediglich die Erzählung seiner Heldentaten würde sich, wenn ich die menschliche Natur richtig einschätzte, von Mal zu Mal ändern; und zwar, was deren Dramatik betraf, in aufsteigender Reihenfolge. Im Haus des Kommandanten, sicherlich schlichter als die Paläste, in die man ihn bat, würden derweil zwei junge Mädchen versuchen, mit dem Wechsel von einer Unfreiheit in die nächste zurechtzukommen.
    Ich entdeckte Enrico Dandolo unter den Arkaden des Dogenpalastes wieder. Er stand in steifer Haltung vor der Truhe eines Mannes, der seinerseits keine Anstalten machte, die Augen zu heben und Dandolo ins Gesicht zu blicken. Für einen Geldwechsler oder Verleiher schien er erstaunlich geschäftsuntüchtig. Dandolo hielt ein zusammengefaltetes und mit ungesiegeltem Lack verschlossenes Pergament in der Hand. Er kämpfte eine Weile mit sich. Plötzlich legte er das Dokument auf die ansonsten leere Oberfläche der Truhe. Sein Gegenüber ließ es eine Weile darauf liegen, ohne einen Finger zu rühren, dann strich er es mit einer raschen Bewegung ein. Er nickte, ohne Dandolo anzusehen. Der Kaufmann stand da mit halb erhobener Hand, wie jemand, der ahnt, dass er einen Fehler gemacht hat, aber nicht genau weiß, warum, und dennoch keine andere Möglichkeit sieht, als das zu tun, was er getan hat. Ich kannte das Gefühl gut, das ihn zu beschäftigen schien; mich überfiel es auch jedes Mal, wenn ich etwas aus dem Bauch heraus tat.
    Enrico Dandolo wandte sich brüsk ab und stapfte wieder hinaus in den Trubel auf dem Platz. Ich wartete einen Moment, dann näherte ich mich dem Mann mit der Truhe, um herauszufinden, welcher Art sein Geschäft war. Wenn Dandolo soeben ein verbotenes Wettgeschäft abgeschlossen hatte, um dem verzweifelten Stand seiner Finanzen aufzuhelfen, konnte ich nichts daran ändern; außerdem war es nicht im Mindesten meine Angelegenheit, und eigentlich hatte ich auch keine Lust, es zu meiner Angelegenheit werden zu lassen. Noch während ich mir das klar machte, schlenderte ich auch schon heran.
    Als ich vor der Truhe stehen blieb und ihrem Besitzer einen guten Tag wünschte, ohne dass mir mehr als ein knappes Kopfnicken zuteil geworden wäre, wurde ich gewahr, dass ein Mann mich beobachtete. Ich sah zu ihm hinüber; er verzog das Gesicht, spuckte auf den Boden und ging davon. Der Mann hinter der Truhe machte nicht den Anschein, dass die verächtliche Geste ihn mehr berührt hatte als die kurze Zwischenlandung einer Fliege auf der Säule neben ihm. Ich verließ ihn, ohne ihn angesprochen oder etwas bei ihm hinterlassen zu haben, und auch dies schien ihn nicht zu interessieren. Er blieb sitzen, wie er war, das blasse Gesicht gesenkt, und ich

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