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Die schwarzen Wasser von San Marco

Die schwarzen Wasser von San Marco

Titel: Die schwarzen Wasser von San Marco Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dübell
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Priester lebte in einer engen Kammer neben dem Altarraum. Der Domherr von Sankt Markus hätte sie vermutlich nicht einmal zur Einlagerung seiner alten Gewänder benutzt. Er kniete vor einem kleineren, etwas kunstfertiger als das in der Kirche gemachte Kreuz, das er vor sich auf den Boden gelegt hatte, und betete. Ein Strohsack in einer Ecke war sein Lager; auf einer niedrigen Truhe standen die Reste seines Morgenmahls: ein abgenutzter Krug mit Wasser sowie ein paar zerbrochene Stücke harten Brotes. Ich dachte an die Zwiebackausgabe beim Arsenal. Wahrscheinlich hatte auch der Priester unter den Almosenempfängern gestanden.
    Als ich mich räusperte, blickte er erstaunt auf. Er war noch nicht alt, und wie es aussah, würde er es unter diesen Lebensumständen auch nicht werden. Auf seinem Hinterkopf waren noch die Reste der Tonsur zu sehen: ein Mönch, der gedacht hatte, mit der Annahme einer Gemeinde dem Klosterleben entfliehen zu können. Es sprach für ihn, dass er noch nicht endgültig das Weite gesucht hatte. Seine Hände waren gefaltet und nicht viel weniger schmutzig als die des Wesens, das in seiner Kirche Obdach gesucht hatte; seine formlose Kutte gemahnte an den Strohsack, auf dem er schlief.
    Er verstand genügend Latein, dass ich mich mit ihm verständigen konnte. Er versprach, eine Bittmesse für eine Frau zu lesen, deren Name ihm nur schwer über die Lippen ging: Gianna D’lugosch ; und eine Totenmesse für ein Kind, nach dessen Namen er sich nicht erkundigte. Dann kniete ich selbst vor dem ungewöhnlichen Kruzifix im Kirchenschiff nieder und betete ein Vaterunser für meine verstorbene Frau Maria. Ich glaube, ich bat sie, Jana zu beschützen. Als ich die Kirche verließ, war die Sonne nur wenig weitergewandert. Der Priester stand immer noch in seiner Kammer, wog das Säckchen mit dem Geld Andrea Dandolos in der Hand und versuchte zu verstehen, wie dieses Wunder über ihn gekommen war.
    Dandolos Bote hatte nicht auf mich gewartet, und es war weit und breit kein Boot an der Stelle zu sehen, an der ich angelegt hatte. Für den Rückweg hatte ich entweder die Möglichkeit, mich in das Gassengewirr westlich des Arsenals zu schlagen, um Barberros Kogge zu umgehen, oder direkt an ihr auf der Riva degli Schiavoni vorbeizumarschieren. Ich erwog gerade das Erstere, als ich sah, wie auf der dem Kai abgewandten Seite ein Ruderboot an der Kogge anlegte. Ich schlich ein bisschen näher heran, aber meine Vorsicht war unbegründet. Niemand achtete auf mich, und hier, in der Nähe des Arsenals, war der Verkehr wieder so dicht, dass ich wohl nicht einmal zu entdecken gewesen wäre, wenn jemand gezielt nach mir Ausschau gehalten hätte.
    Die Besatzung warf eine Strickleiter über die Reling, die zwei Männer in dem Boot hielten sie fest, und wenige Augenblicke danach schwangen sich Fulvio und drei andere Männer auf die Strickleiter und kletterten hinab. Das Boot legte sofort danach ab, wurde mit kräftigen Ruderschlägen über den Canale di San Marco getrieben und überließ sich dann dem Wind, der ein mit wenigen Handgriffen aufgerichtetes Segel blähte. Ich sah ihm nach, bis es um San Giorgio Maggiore verschwand, und dachte daran, dass Calendars entführter Prinz mit einem ähnlichen Schiff und der gleichen Besatzung vielleicht den Weg in die Sklavenarbeit eines Bergwerks angetreten hatte. Danach ging ich nicht unbedingt aufgeheitert, aber doch einigermaßen unbesorgt an Barberros Schiff vorbei.
    Ich konnte mich halbwegs an den Weg erinnern, den ich mit Enrico Dandolo und Michael Manfridus benutzt hatte, doch ich riskierte nicht, die Piazza San Marco und den Dogenpalast so zu umgehen, wie es Dandolo getan hatte; ich marschierte zur Piazzetta, um den Markusplatz zu überqueren und dann den Weg zur Herberge zu finden.
    Auf der Riva degli Schiavoni war hauptsächlich arbeitendes Volk unterwegs: Dienstboten auf ihren Besorgungsgängen, Lastträger, Matrosen, Arbeiter, die vom oder zum Arsenal strebten. Der hoch gewachsene, prunkvoll gekleidete Mann, der aus einem Palast mit einer prächtigen Fassade unweit des Dogenpalastes trat und sofort in Richtung Piazzetta trabte, wäre in diesem Umfeld ohnehin aufgefallen. Ich wurde jedoch auch deshalb auf ihn aufmerksam, weil ich ihn erkannte.
    Enrico Dandolo lief schnellen Schrittes zu der Brücke, die sich über die Mündung des rio hinter dem Dogenpalast spannte, und überquerte sie wie jemand, der es eilig hat. Als ich an dem Gebäude vorüberkam, das er kurz zuvor verlassen

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